Im Einzelhandel werden die Entscheidungsprozesse durch ökonomische Rahmenbedingungen bestimmt: Betriebs- und Investitionskosten oder Vermietungsergebnisse haben Priorität. Doch zunehmend gewinnen Werterhaltung, Wertsteigerung und die Potenziale in der Nachnutzung eines Gebäudes an Bedeutung. Hier führt Nachhaltigkeit zu ökonomischer Wirkung.

Bei der Grundsatzfrage: „Ist eine Zertifizierung für den Bauprozess sinnvoll?“ steht zu Beginn die Betrachtung: Wo leistet ein Zertifizierungssystem mehr als übliche Verfahren im Bauprozess? Die Antwort lautet: Zertifizierungssysteme ermöglichen eine neue Betrachtungsebene. Ökologische, ökonomische, soziokulturelle und funktionale Qualität werden gleichberechtigt in den Planungsprozess einbezogen.

Durch die Betrachtung der Lebenszyklen von einzelnen Baumaterialien entsteht eine umfassende Berücksichtigung der energetischen Aspekte des Bauens. Die Bauwerks-Performance steht insgesamt im Vordergrund, und diese Betrachtung ist deutlich umfassender als der übliche Bauprozess. Von besonderer Bedeutung in den Zertifizierungssystemen ist der Aspekt der Transparenz. Alle Arbeitsschritte, alle Planungsbereiche werden nachvollziehbar dargestellt.

Das wesentliche Potenzial für die Steigerung der Effizienz und der Effektivität eines Bauprojektes liegt in der Planungsphase. Schon zu Beginn des Planungsprozesses lassen sich die langfristig entstehenden Kosten gestalten und beeinflussen. Bereits hier gilt es, die den Lebenszyklus optimierende Betrachtung einzubeziehen. Das Zertifizierungssystem stellt diese umfassende Betrachtung der ausgewählten Baustoffe und Materialien, Zuschlagsstoffe im Beton, Fußbodenbeläge und Werkstoffe des Innenausbaus sicher. Moderne Zertifizierungssysteme, wie sie aus dem DGNB, BREEAM oder anderen Quellen bekannt sind, begleiten durch ihre Parameter den üblichen Planungsprozess.

Umfassende Betrachtung

Der Planungsprozess im Einzelhandel wird dominiert von zwei Fragen: Welche Kosten entstehen? Welche Zeitachse ist möglich? Und er gliedert sich in zwei unterschiedliche Bereiche: Anmietung bzw. Vermietung und Bauprozess sowie die Inbetriebnahme und Nutzung. Beide Schritte haben ganz unterschiedliche Dynamiken, unterschiedliche Akteure, unterschiedliche Kriterien, und beide treffen oft nur an einer Schnittstelle aufeinander: dem Abschluss des Mietvertrags. Darauf folgend beginnt der Planungs- und Bauprozess.

Der Planungsprozess beginnt mit der Aufnahme der äußeren Rahmenbedingungen: die kommunalen Vorgaben, der formale Rahmen wie EnEV, DIN 18599, DIN 4108, das EEWärmeG, das KWKG, die EDL-Richtlinie und die F-Gase-Verordnung. Daraufhin wird das architektonische Konzept erarbeitet sowie ein Energie- und TGA (Technisches Gebäudeausrüstungs)-Konzept erstellt. Hier werden Heizungs- und Kühlungssysteme untersucht, Beleuchtungskonzepte für innen und außen entworfen, regenerative Energieformen integriert und letztlich ein MSR- (Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik-) und Betriebskonzept erarbeitet.

Ebenfalls einbezogen werden die Aspekte Baustellenbetrieb, Entsorgung, Zeitmanagement und Kostenkontrolle und die zu erwartenden Betriebskosten bis hin zur nächsten Sanierung. In den gesamten Bauprozess greift die Zertifizierung hinein und berührt alle Teilbereiche des Planungsprozesses, die verschiedenen Teilbereiche des üblichen Bauprozesses werden durch die Zertifizierung begleitet. Das Zertifizierungssystem lenkt die Aufmerksamkeit des Planungsprozesses auf die einzelnen Teilbereiche der Nachhaltigkeit.

Kritische Stimmen bemerken, dass die eine oder andere Vorgabe aus einem Zertifizierungssystem nicht den Anforderungen im Einzelhandel entspricht. Nicht selten sind angemietete Liegenschaften nicht Zertifizierungssystem- konform; nicht selten gibt es widersinnige Anforderungen und Bewertungen in Zertifizierungssystemen. Auch sind nicht alle Angaben spezifisch so genau gefasst, dass sie auf die Nutzung im Einzelhandel anzuwenden sind.

Wirkungsvolles Instrument

Und dennoch: Das Zertifizierungssystem ist ein wirkungsvolles Instrument, um den Planungsprozess zum Thema Nachhaltigkeit zu leiten und die Einzelaspekte zu integrieren. Natürlich verursacht das Zertifizierungsprozesssystem Kosten: bei Neubau und Sanierung für den Vermieter und Bauherrn eines Projektes und beim Ausbau für den Mieter. Bei Großprojekten können diese Kosten Größenordnungen von 50.000 bis 100.000 Euro erreichen.

So stellt sich die entscheidende Frage: Wie wirkungsvoll, wie sinnvoll und wie notwendig ist der Einsatz eines Zertifizierungssystems? Die Investition in einen Zertifizierungsprozess braucht eine klare Richtungsentscheidung. Ohne Zweifel entstehen Mehrkosten, die in dem Projekt zu tragen sind. Ohne Zweifel entsteht ein Zeitaufwand. Ohne Zweifel gilt es, an der einen oder anderen Stelle neue Baukonstruktionen zu wählen, neue Baustoffe einzuführen und neue Technologien einzusetzen. Aber gerade das ist der Nutzen des Zertifizierungssystems. Zertifizierungssysteme integrieren die verschiedenen Aspekte des Bauens, sie brechen die üblichen Planungsschritte auf und machen deutlich: Nachhaltigkeit ist ein kontinuierlicher Prozess.

Neue Betrachtungsweisen

So gilt es, die Standard-Leistungsverzeichnisse kontinuierlich zu überarbeiten, die aktuellen Verordnungen einzubeziehen und neue Betrachtungsweisen wie die Lebenszykluskostenbetrachtung als Steuerungswerkzeug für den Planungsprozess zu begreifen. Hier leisten Zertifizierungssysteme einen guten Beitrag. Die verschiedenen Aspekte sind in den Systemen gründlich aufbereitet, und das für den Planungsprozess notwendige Know-how ist in den einzelnen Datenbanken hinterlegt.

Die Erfahrung zeigt, dass die Zusammenarbeit mit Zertifizierern und der Einsatz von Zertifizierungssystemen in Bezug auf die vorgenannten Faktoren immer fruchtbar und hilfreich ist. Die eigentliche Zertifizierung und die Frage, ob es nun Gold, Silber oder Bronze wird, rückt dabei in den Hintergrund. Nicht selten lässt man bei Planungen den Zertifizierungsprozess parallel mitlaufen, ohne zum Schluss tatsächlich eine Zertifizierung durchzuführen. Hier steht der Nutzen im Vordergrund, das Know-how der Systeme aufzugreifen und die Werkzeuge der Zertifizierungssysteme in den Planungsprozess einzubringen, um Nachhaltigkeit zu integrieren. Zertifizierungssysteme sind ein hilfreiches Werkzeug, wenn es darum geht, Nachhaltigkeitsaspekte in den Bauprozess zu integrieren.

Foto: istock / BartCo

Autor Jörg Probst ist Geschäftsführer der Gertec Ingenieur- und Planungsgesellschaft.

Weitere Informationen: www.gertec.de