Nicht wenige Beispiele aus dem Einzelhandels-
markt, beispielsweise aus der Buch-, Elektronik- oder Schuhbranche zeigen, dass es vielen Einzelhändlern trotz proklamierter Multichannel-Strategie nicht gelungen ist, den Vertrieb über mehrere, nahtlos integrierte Kanäle zu vernetzen. Und dafür gibt es verschiedene Gründe. Die wichtigsten Gründe sind hier dargestellt.
Viele Händler scheitern bereits bei einem klaren Verständnis von Multichannel-Retailing sowie bei einer klaren, operationalisierten Zielsetzung über die strategische Zielsetzung hinaus. In Bera-
tungs- und in Strategiekonzepten, in Managementgesprächen, auf Fachkongressen bis hin zu Veröffentlichungen ist die Thematik Multichannel- Retailing „in aller Munde“ und wird mit erfinderischen Wortschöpfungen von „Cross-Channel“ bis „Noline“ vermeintlich konzeptionell weiterentwickelt. Nur was ist unter Multichannel-Retailing genau zu verstehen? Eine konsequent umgesetzte Multichannel-Strategie im Einzelhandel ermöglicht einen Vertrieb über sich ergänzende und nahtlos integrierte Kanäle mit kanalübergreifender Database und kanalübergreifenden Prozessen.
Die meisten proklamierten Multichannel-Strategien reduzieren sich in der Umsetzung auf mehr oder weniger unabhängig voneinander betriebene, verschiedene und parallele Vertriebskanäle. Damit agiert jeder Kanal unabhängig in „seinem“ Vertriebsweg – sei es stationär oder online – und ist als quasi multipler Pureplayer in „seinem“ Vertriebsweg entsprechend angreifbar, und dies insbesondere von den reinen Online-Pureplayern. Differenzierende und für den Kunden wertschöpfende Multichannel-Potenziale bleiben ungenutzt.
Unklarheit scheint auch über die Zielsetzung von Multichannel-Retailing zu herrschen. Warum das Ganze überhaupt, und wie ist der Erfolg zu messen? Die geläufigen Antworten stationärer Händler: „Wir müssen in einem wachsenden Kanal wie Online dabei sein“ oder: „Jeder Kanal muss für sich profitabel sein“ sind nicht nur zu kurz gedacht, sondern sind auch die Ursache für eine unzureichende Implementierung. Der Misserfolg ist so vorprogrammiert, und anstatt die Implementierung zu hinterfragen, wird die Multichannel-Strategie oft revidiert oder beendet.
Share of Wallet
Dabei ist die Antwort ganz schlicht: Zielsetzung einer Multichannel-Strategie ist, die Kunden-Ausschöpfung zu erhöhen, oder in anderen Worten: „the share of wallet“ zu erhöhen. Denn wer sich wirklich mit seinen Kunden und Kundendaten beschäftigt, wird feststellen, dass diejenigen Kunden, die sich virtuos über die Kanäle des Händlers hinweg bewegen und mal im stationären Kanal und mal im Online-Kanal tätig werden, deutlich öfter und einen größeren Warenkorb einkaufen als diejenigen Kunden, die sich nur in einem der parallel betriebenen Kanäle bewegen. Allein die Anzahl dieser sogenannten Mehrkanalkunden, die sich über mehrere Kanäle bewegen, ist als oberste Kennziffer und operationalisierte Zielsetzung einer Multichannel-Strategie zu betrachten. Dieses Kundenverhalten zum einen festzustellen und zu messen und zum anderen als Unternehmen aktiv zu forcieren, setzt eben „nahtlos integrierte Kanäle mit einer kanalübergreifenden Database und kanalübergreifenden Prozessen“ voraus.
Die Umsetzung einer Multichannel-Strategie ist Chefsache. Aber viele Unternehmenslenker halten sich an bewährte Muster: Projektteam bilden, Ressourcen bereitstellen, fertig. Eine wegdelegierte Multichannel-Verantwortung führt in der Regel zum Misserfolg. Denn Multichannel-Retailing verändert das gesamte, manchmal schon sehr lange bestehende Handelsunternehmen. Und diese Veränderungen finden im Mark des Unternehmens statt und damit in der Steuerung und der Organisation, in den Kernprozessen und am Ende des Tages in der ureigenen Kultur eines Unternehmens. Die Implementierung einer Multichannel-Strategie erfordert deshalb Change-Management par excellence. Und diese Verantwortung ist nicht delegierbar. Sehr oft betrachten sich andere Unternehmensbereiche eines stationären Händlers – sei es die Architekturabteilung oder die Personalabteilung – bestenfalls als interessierte „Zaungäste“ der Multichannel-Bemühungen ihres Unternehmens.
Sich ergänzende und nahtlos integrierte Kanäle mit kanalübergreifender Database und kanalübergreifenden Prozessen.
Lutz Spannuth
Doch wer ist dann für die Weiterbildung des bestehenden stationären Filialpersonals hin zu guten Multichannel-Verkäufern verantwortlich? Und wer denkt über neue stationäre Flächenaufteilungen oder gar neue Flächenkonzepte nach? – sei es, um Multichannel- Services wie Drop-off- und Pick-up-Points richtig am POS zu platzieren oder sei es, sich um die Auswirkungen von Online-Pureplayern mit extremen Long-Tail-Angeboten auf die bisherigen Quadratmeter-Notwendigkeiten der stationären Filialen Gedanken zu machen. Denn auf einmal ist der bisher so geschätzte Flagship-Store möglicherweise eine „Boutique“ im Vergleich zum Online Wettbewerber. Die erfolgreiche Implementierung einer Multichannel-Strategie duldet deshalb keine „Zaungäste“ im eigenen Unternehmen. Das notwendige Change-Management betrifft alle – und wirklich alle – Unternehmensbereiche, und es nicht delegierbar.
„Multichannel? Da müssen Sie sich an unser Marketing wenden“. Dieser Satz ist nicht nur oft zu hören, er zeigt auch, wo die Verantwortung weitgehend wahrgenommen wird. Das Marketing, und damit die Kommunikation zum Kunden hin, spielt zweifelsohne eine wichtige Rolle im Betrieb eines Multichannel-Businessmodells. Dies gilt insbesondere für die Notwendigkeit, die Kommunikation inhaltlich, zeitlich und im „Look and Feel“ synchron über alle Kanäle zu betreiben. Wird darüber hinaus eine aktive Cross-Kanal-Kommunikation so eingesetzt, dass der Kunde zum Kanalwechsel oder zum kanalübergreifenden Einkaufen motiviert wird, dann hat das Marketing erfolgreich zu der Zielsetzung der Schaffung von Mehrkanalkunden und der damit verbundenen höheren Kunden-Ausschöpfung beigetragen.
Funktionierendes Backend
Aber was das Marketing verspricht, muss auch am Backend gehalten werden. Insofern muss in einer Multichannel-Strategie das Change-Management genau hier ansetzen. Das Nachverfolgen des kanalübergreifenden Kundenverhaltens sowie eine darauf ausgerichtete Kommunikation setzen voraus, dass alle Kundendaten in einer kanalübergreifenden Database gehalten werden. Stationäre Einzelhändler betreiben hingegen oft schon ein Kundenbindungsprogramm mit einer dazugehörigen Database, bevor sie den Online-Kanal hinzufügen, dessen Fulfillment dann outsourcen und damit eine zweite parallele Database schaffen. Führt man diese zwei Databases zu einer zentralen, kanalübergreifenden Database zusammen, ermöglicht man nicht nur ein in allen seinen Facetten kanalübergreifendes Kundenbindungsprogramm, sondern man schafft für die Multichannel-Strategie eine sehr wesentliche Voraussetzung am Backend.
Die zweite für die Multichannel-Strategie sehr wesentliche Voraussetzung am Backend liegt in kanalübergreifendem Bestandsmanagement und kanalübergreifender Bestandsführung. Oft werden die Bestände für den Online-Kanal dezentral und separat gelagert und gemanagt, ohne die Möglichkeit der Nachlieferung bzw. der Bewegungen von Beständen über die Kanäle hinweg. Damit findet das notwendige kanalübergreifend gleiche Sortimentsbild oft nur für kurze Zeit oder „auf dem Papier“ statt. Denn unterschiedliche Abverkaufs-Dynamiken im stationären und im Online-Kanal führen schnell zu Ausverkäufen in einem Kanal, während der Artikel in dem anderen Kanal noch verfügbar ist. Und diese unterschiedlichen Abverkaufs-Dynamiken sind schon zu Beginn einer Saison mit dem schnelleren „Anspringen“ des Online-Kanals der Regelfall. Aus Kundensicht ergibt das über die Saison hinweg ein heterogenes Sortimentsbild. Und mit unterschiedlichen Sortimentsbildern wird ein kanalübergreifendes Agieren des Kunden empfindlich gestört. Wie soll dann die so wichtige Online-Recherche des Kunden zu einem stationären Kauf führen, wenn diese wegen fehlender Online-Verfügbarkeit nicht stattfinden kann?
Letztendlich stecken damit heute viele stationäre Einzelhändler, die sich kunden- und marktgetrieben zu einem integrierten Multichannel-Retailer entwickeln müssen, in einem Dilemma. In einem im Grunde nicht mehr wachsenden Einzelhandelsmarkt sind sie immer weniger in einer gestaltenden Rolle, denn „ihr“ Vertriebsmodell verliert kontinuierlich Marktanteile. Mit den Online-Pureplayern „im Nacken“, die schnell, konsequent, oft unkonventionell, aber dominant im Markt agieren, werden die stationären Einzelhändler heute in einen Change-Prozess getrieben, den sie vor nur fünf Jahren noch hätten systematisch konzipieren, gut vorbereiten, gegebenenfalls testen und sorgfältig implementieren können.
In vielen Teilmärkten im Einzelhandel ist diese Zeit heute nicht mehr vorhanden. Auf der anderen Seite erfordert die Implementierung der notwendigen Multichannel- Strategie einen Change-Prozess, der im Mark des Unternehmens, in der Steuerung und Organisation, in den Kernprozessen und in der ureigenen Kultur stattfindet. Aber bei zu rascher Implementierung droht ein solch tiefgreifender und komplexer Change-Prozess erfahrungsgemäß zu scheitern. Dennoch: Dieses Dilemma ist heute zu lösen, und es kann gelöst werden. Denn wer es nicht löst, wird von den eigenen Kunden abgestraft werden.
Foto: Fotolia/benqook
Kontakt: lutz.spannuth@spannuth-direct.com
Mobile Internetnutzung hoch im Kurs
Mobile Endgeräte zählen in vielen Haushalten zum festen Bestandteil des alltäglichen Lebens. Sechs von zehn Bundesbürgern besitzen mittlerweile internetfähige Mobiltelefone, 44 Prozent der Deutschen geben an, im Besitz eines Smartphones zu sein. Jede Woche gehen 13,7 Mio. Bundesbürger über ihr internetfähiges Mobiltelefon online. Bereits 8,2 Mio. Deutsche greifen über Tablets auf Online-Inhalte zu. Dies geht aus einer Untersuchung des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. hervor. Nach den Ergebnissen der Studie erschließen sich 13,7 Mio. Deutsche mindestens jede Woche über Mobiltelefone und Smartphones den Zugang zum mobilen Internet. Damit habe sich die wöchentliche Internetnutzung über das Mobiltelefon innerhalb der letzten zwei Jahre mit einem Zuwachs in Höhe von 117 Prozent mehr als verdoppelt.
Weitere Informationen: www.bvdw.org