Auch wenn das Krisenjahr 2022 eine Wachstumsdelle hinterließ, setzte der deutsche Onlinehandel aufgrund der gestiegenen Zahl der Internetbestellungen im Zuge der Pandemie 101,7 Mrd. Euro um. „Vor allem Waren des täglichen und ‚akuten‘ Bedarfs wie Lebensmittel wachsen weiter“, hält der E-Commerce-Verband BEVH fest. Nicht zuletzt deshalb haben Paketdienste alle Hände voll zu tun. Zwar gebe es einen Einbruch gegenüber dem Rekordjahr 2021, aber das Volumen von 4,15 Mrd. Sendungen im Jahr 2022 habe „mit rund 14 Prozent deutlich über dem Vor-Corona-Niveau“ gelegen, notiert der Bundesverband Paket- und Expresslogistik. Pro Tag ergebe das 14 Mio. Sendungen.

Schnell expandiert

Paket- und Expresskurier- Dienste arbeiten daran, die großen Lkw auf der „letzten Meile“ stehen zu lassen.

Paket- und Expresskurier- Dienste arbeiten daran, die großen Lkw auf der „letzten Meile“ stehen zu lassen.
Foto: Justus Menke/Unsplash

Die Folge: Viele Paketautos sind in den Straßen der Innenstädte unterwegs. Kurier-Express-Paket- Dienste (kurz: KEP) erproben zwar emissionsarme Logistikkonzepte für die „letzte Meile“. Doch ob Lkw oder Lastenrad – die Logistik steht in Konkurrenz zu anderen Verkehrsteilnehmern. Neuer Wettbewerb entstand im Windschatten der Pandemie in Form von Quick-Commerce- Dienstleistern wie Flink oder Getir, die Waren bequem bis zur Haustür bringen, teils in unter 15 Minuten. Um dieses Lieferversprechen einzuhalten, braucht es nicht nur zuverlässige Rad- und Rollerkuriere, sondern auch ein engmaschiges Vertriebs- und Filialnetz, das die Unternehmen vor allem in den Pandemiejahren anhand intensiver Expansionsstrategien etablierten.

Nicht überall freuten sich die Nachbarn: Beschwerden über lautstarke Fahrer:innen, nächtliche Anlieferungen und zugeparkte Stellflächen häuften sich. Mancherorts schürte der Anblick schmuckloser Dark Stores Bedenken über eine Verödung des Umfelds. Eine hohe Verkehrsbelastung, dazu „Geisterläden“, die das Stadtbild prägen – könnte so die Zukunft einer von Logistik dominierten Innenstadt aussehen?

Einig sind sich viele Fachleute darin, dass der Warenfluss zunehmen und der Bedarf an Lager- und Umschlagsflächen steigen wird. Ein solche Entwicklung müsse jedoch nicht den Niedergang urbaner Zentren bedeuten, sagt Thees Kalmer. Kalmer leitet die Berliner Dependance von Urban Catalyst, einem Planungsbüro mit Fokus auf nachhaltige Standortentwicklung. „Ich sehe die Chance, Flächen im öffentlichen Raum neu zu verteilen und Logistik neu zu denken.“

Leerstände in Innenstädten ließen sich vermeiden, wenn man die Flächen schneller umwidmen und Mischformen genehmigen würde.

Sönke Kewitz

Managing Director Germany, P3 Logistic Park

Positive Entwicklung

Ähnlich sieht das Benjamin Schrödl, Partner bei Pricewaterhouse Coopers und Bereichsleiter M&A Real Estate, für Eigentümer von Handelsimmobilien. Eine Zwischennutzung im Bereich Logistik sei eine Möglichkeit, Leerstand abzuwenden. Dank hoher Decken und hinreichender Traglast seien vor allem „Warenhäuser und deren Parkhäuser sehr gut für die Lagerung geeignet“. „Als Eigentümer muss ich nicht groß umbauen. Doch meine Immobilie ist erst mal bewirtschaftet und ich kann mir über weitere Lösungen Gedanken machen.“ Auch Dirk Wichner, Head of Retail Leasing JLL Germany, betont die positiven Seiten der Nachfrage. Sein Team habe „deutlich mehr als 100 Abschlüsse“ mit Quick Commerce- Anbietern erzielt: „Ich kenne keinen Eigentümer, der unzufrieden mit dem Deal war. Die Mieterträge lagen mindestens auf dem Niveau des zuletzt angesiedelten Händlers.“

Im Gegenzug seien Anforderungen der Mieter an die Eigentümer „in der Regel sehr, sehr gering“. „Die Lieferdienste haben ja keinen Publikumsverkehr. Da muss alles nur so sein, wie es den Betrieb erfüllt.“ In Bezug auf die Spannungen mit den Anwohner:innen hält Wichner die Online-Supermärkte für gereift: „Die Anbieter schauen sich inzwischen genau an, wohin sie gehen. Auf der anderen Seite hat manche Stadtverwaltung mit Nutzungsänderungen regulierend eingegriffen.“ Ein Eindruck, den Thees Kalmer für die Hauptstadt teilt. Dort war der Ärger in einzelnen Kiezen hochgekocht. Momentan habe sich die Situation „scheinbar etwas beruhigt“.

Turnaround

Darüber hinaus sieht Kalmer abgesehen von der arbeitsrechtlichen Dimension – Stichwort: niedrige Bezahlung der Fahrer:innen – „auch gar kein Riesenproblem“. Zumindest keines, das sich nicht mit einer integrierten Stadt- und Verkehrsplanung lösen ließe. „Die Frage ist: Wie werden die Waren ausgeliefert? Wenn Anlieferungen per Fahrrad durchgeführt und dadurch Autos stehen gelassen werden, ist das zunächst positiv.“ Für Entspannung sorgt auch, dass sich der Markt enorm konzentriert hat. Kleine Anbieter sind aufgekauft worden, die großen befinden sich auf Konsolidierungskurs. Gorillas, das einstige Einhorn unter den Liefer-Start-ups, wurde 2022 mit defizitären Strukturen vom türkischen Anbieter Getir übernommen.

In Berlin gehören die Roller von Getir zum Stadtbild. Der Quick-Commerce-Anbieter mit Sitz in Istanbul übernahm im Dezember 2022 den Mitbewerber Gorillas.

In Berlin gehören die Roller von Getir zum Stadtbild. Der Quick-Commerce-Anbieter mit Sitz in Istanbul übernahm im Dezember 2022 den Mitbewerber Gorillas.
Foto: Foto: Geoprofi Lars/Wikimedia Commons CC 4.0

Konkurrent Flink kündigte im Frühjahr an, 2023 erstmals schwarze Zahlen schreiben zu wollen. Meldungen zufolge soll das Unternehmen 8.000 Stellen gestrichen haben. Standorte wurden geschlossen. „Die Reichweite des Modells wird auf absehbare Zeit auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt sein“, hielt Jens von Wedel von der Strategieberatung Oliver Wyman im Rahmen einer Nutzerbefragung zum Thema „Quick Commerce“ fest.

Für den Gesamtmarkt veranschlagten die Researcher 500 bis 700 Mio. Euro Umsatz – was weniger als einem Prozent des Gesamtumsatzes im Lebensmittelsektor entspräche. Der Fokus der Anbieter liege nun darauf, „den Turnaround zu schaffen“. Ähnliches beobachtet Dirk Wichner für Jones Lang LaSalle (JLL): „Die Quick Commercer erledigen jetzt ihre Hausaufgaben. Viel Energie geht in die Optimierung der Lieferketten. Wenn expandiert wird, dann sehr spitz, um weiße Flecken auf der Landkarte zu schließen.“

Online und stationär verzahnen

Und was machen die klassischen KEP-Dienste? „Vor zwei, drei Jahren haben die Kurierdienste den Markt sehr intensiv sondiert. Zu großen Anmietungen ist es nicht gekommen – und die kristallisieren sich auch derzeit nicht heraus“, so Wichner. Dazu passt: 2022 eröffnete DPD in Berlin-Friedrichshain mit einem neuen Store-Konzept, das die Annehmlichkeiten des Onlineshoppings mit dem Service des stationären Retail verbindet. Zu einem Rollout kam es bisher nicht. „Noch legen wir beim DPD-Store ein gutes Stück Geld drauf, weil Fläche in der Innenstadt teuer ist“, erklärt Gerd Seber, Group Manager City Logistics & Sustainability bei DPD, der Verkehrsrundschau.

Vielmehr setzen KEP-Dienstleister auf Microhubs, kleine Depots, an denen Pakete angeliefert, abholt oder zwischengelagert werden. Dazu gehört der DHL-Shop, den der Kioskbesitzer als Subunternehmer betreibt, das kann aber auch ein eigens in der Innenstadt oder auf dem Deck eines Parkhauses aufgestellter Container sein. Oder eine Paketstation, an der sich Bestellungen rund um die Uhr abholen lassen. Was als Kundenservice angeboten wird, ermöglicht den Betreibern, Anfahrten zu bündeln. Gleichwohl sind auch „kleine“ Standortlösungen auf Flächen angewiesen – und die Dienste wiederum auf die Akteure vor Ort.

Den Knoten lösen

Dadurch stellt die Branche viele Kommunen vor Herausforderungen. Dabei habe „keine Stadt ein Verkehrsproblem wegen KEP“, wie Christoph Tripp, Professor für Distributions- und Handelslogistik an der TH Nürnberg, gegenüber der Deutschen Verkehrs-Zeitung festhielt: „Echte KEP-Fahrzeuge“ machten weniger als zwei Prozent aller Fahrzeuge auf deutschen Straßen aus. Thees Kalmer sieht Öffnungstendenzen, die sich mitunter aus dem Handlungsbedarf in Sachen Klimaschutz und Mobilität speisen: „Immer mehr Städte fragen sich: Wie wollen wir unsere Zentren umstrukturieren, damit sie auch in Zukunft lebenswert bleiben? Dabei formulieren sie durchaus ambitionierte Ziele.“

Ob allerdings Parkraum zugunsten einer Radinfrastruktur umgewidmet werde, sei auch eine „Frage von politischen Mehrheitsverhältnissen“. „Gerade wenn das Auto infrage gestellt wird, ist das in Deutschland ein emotionales Thema“, sagt Kalmer. Davon abgesehen brauche es „häufig gar nicht so viel Kreativität“, um die verkehrlichen Knoten zu lösen: „Man muss die vielfach bereits vorliegenden Ansätze nur in die Umsetzung bringen.“ Ähnlich schätzt Sönke Kewitz, Managing Director Germany des Logistikimmobilienentwicklers P3 Logistic Park, gegenüber der Verkehrsrundschau den Handlungsspielraum auf planungsrechtlicher Ebene ein: „Leerstände in Innenstädten ließen sich vermeiden, wenn man die Flächen schneller umwidmen und Mischformen wie etwa Einzelhandel und Paket-Store genehmigen würde. Die Städte müssen das nur wollen.“