Für die 1.600 Einwohner von Emtinghausen, einer Dorfgemeinde im Bundesland Niedersachsen, war der 7. Dezember 2023 so etwas wie ein verfrühtes Weihnachtsfest. „Tante Enso“, ein Mini-Lebensmittelmarkt mit einem Vollsortiment für den täglichen Bedarf, öffnete im Ortszentrum seine Pforten und damit ist nach langer Zeit wieder ein Nahversorger im Ort, der an allen Wochentagen rund um die Uhr geöffnet hat. Der Laden ist an den Werktagen drei bis vier Stunden mit Personal besetzt, außerhalb dieser Zeiten wird der Zutritt über die My-Enso-Kundenkarte elektronisch geregelt. Der Einkaufsvorgang muss dann am Self-Checkout abgeschlossen werden.
Betreiber von „Tante Enso“ ist das Bremer Unternehmen My Enso, das 2018 als Online-Supermarkt startete und noch im gleichen Jahr den ersten stationären Markt eröffnete. Heute gibt es 32 Filialen, weitere 46 sind bereits in der Umsetzung. Die Supermärkte im Kleinformat sollen helfen, das Problem der Nahversorgung in ländlichen Regionen zu lösen. „In Deutschland gibt es rund 8.000 unterversorgte Siedlungsgebiete, in denen die Menschen für die tägliche Nahversorgung sehr weite Strecken zurücklegen müssen“, sagte Rewe-Vorstand Peter Maly anlässlich der Eröffnung der ersten „Nahkauf-Box“ vor zwei Jahren im oberfränkischen Pettstadt. Mittlerweile gibt es sechs „Nahkauf-Boxen“. Hier sind es die selbstständigen Rewe-Kaufleute, die den Betrieb der Kleinstflächen mit Warennachschub, Instandhaltung und Pflege aus ihrem Stammmarkt heraus sicherstellen.
Auch der südbayerische Lebensmittelfilialist Georg Jos. Kaes (56 Filialen / 1,07 Mrd. Euro Umsatz in 2022) macht gute Erfahrungen mit seinem Kleinflächenkonzept. Zu den beiden Vollsortimentern namens „v-mini“ sollen 2024 drei weitere hinzukommen. Bereits im Frühjahr eröffnet ein 750 qm großer „v-mini“ in Gablingen bei Augsburg – ohne Personal und ausschließlich mit Self-Checkouts und Exit Gates.
IT-Ausstattung mit Bordmitteln
Die teilautonomen Flächenkonzepte sind mit relativ überschaubaren technischen Mitteln realisierbar. Zutrittskontrollsysteme, Self-Checkout oder Smartphone-Scanning und Videoüberwachung sind Technologien, die zum Standardsortiment der IT-Anbieter gehören. Die Ausstattung der Lowtech-Konzepte ist deutlich weniger komplex als die der Grab-and-go-Stores, in denen die Produkte mit Kameras, Bewegungs- und Gewichtssensoren erfasst werden und die Kund:innen den Laden ohne einen aktiven Bezahlvorgang wieder verlassen. Von diesen vollautonomen Walk-in-Stores, wie Rewe „Pick& Go“ als bekanntestes Beispiel, gibt es erst rund ein Dutzend in Deutschland, während die halbautonomen Mini-Märkte à la „Tante Enso“ nach der aktuellen Statistik der DHBW Heilbronn schon auf rd. 250 (inkl. Hybrid-Konzepte) kommen.
Die Strategie hinter beiden Konzepten ist völlig verschieden: Die wenigen Grab-and-go-Märkte mit Hightech-Ausstattung sind allesamt Testmärkte, mit denen die Betreiber ausprobieren, was technisch möglich ist und wie die Technologien und Einkaufsprozesse von den Kund:innen angenommen werden. In Anbetracht der hohen Investitionen pro Standort ist ein flächendeckender Roll-out der Hightech-Mini-Märkte derzeit keine Option – im Gegensatz zu den leichter skalierbaren Lowtech-Konzepten, mit denen sich bereits Geld verdienen lässt. Die Investitionen für Ladenbau und technische Ausstattung liegen bei den „Tante Enso“-Stores bei durchschnittlich 200.000 bis 250.000 Euro, wovon mindestens 30.000 Euro durch das Genossenschaftsmodell finanziert werden.
Rechtliche Grauzone
Der Bedarf an 24/7-Läden ist vorhanden, und zwar nicht nur in ländlichen Regionen, sondern auch in hoch frequentierten City-Lagen. Den kleinen Einkauf rund um die Uhr inklusive Sonntag ermöglichen zum Beispiel die aktuell 39 „teo“-Stores des Lebensmittelfilialisten Tegut, die zu einem großen Teil im urbanen Umfeld angesiedelt sind. Die Expansionspläne des zur Migros-Gruppe gehörenden Handelsunternehmens haben allerdings zu Jahresbeginn einen herben Dämpfer erfahren. Das Verwaltungsgericht Kassel hat nach einem zweijährigen Rechtsstreit mit der Stadt Fulda entschieden, dass die meisten Teos in Hessen, nämlich 28, an Sonn- und Feiertagen nicht mehr öffnen dürfen. Für Tegut ein harter Schlag, zumal der Sonntag bei den meisten Teos der mit Abstand umsatzstärkste Tag ist. „Wir müssen prüfen, ob der Betrieb eines teos an einem Standort noch wirtschaftlich ist, wenn der Sonntag wegfällt“, sagt Tegut-Sprecher Matthias Pusch. An der Größenordnung von zehn Neueröffnungen in 2024 will man allerdings festhalten. Pusch: „Eventuell verschieben wir auch einige für Hessen geplante Neueröffnungen nach Bayern.“ Gleichzeitig hofft man auf eine Modernisierung des Ladenöffnungsgesetzes im Zuge der neuen Regierungskoalition in Hessen.
Bundesweit ist eine Sonntagsöffnung nicht erlaubt. Zwar gibt es Ausnahmeregelungen, die von den Länderkommunen erteilt werden können, dennoch sind sich die Betreiber von 24/7-Mini-Supermärkten bewusst, dass sie sich rechtlich auf dünnem Eis bewegen. Norbert Hegmann, Geschäftsführer von My Enso, sieht die Lage mit Blick auf das Verbreitungsgebiet der 32 „Tante Enso“-Märkte (Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bayern) eher gelassen. „Es gibt mehrere Ansatzpunkte, wie man mit dieses Thema umgehen kann“ (siehe Interviewkasten). Fest steht: Der Bedarf an stationären Nahversorgern in den strukturschwachen Regionen ist unbestritten, entsprechende Lösungskonzepte sind politisch gewünscht. Im Falle von „Tante Enso“ dürfte auch die genossenschaftliche Struktur des Geschäftsmodells die Abstimmungsprozesse mit den lokalen politischen Instanzen erleichtern.
Diebstahlprävention
Der Betrieb der 24/7-Stores birgt zu den Zeiten, an denen kein Personal im Laden ist, ein hohes Diebstahlrisiko. Die Betreiber sind daher gefordert, nach effizienten und praktikablen Lösungen zu suchen, um Ladendiebstahl und Vandalismus zu verhindern. In aller Regel sind die Stores mit einer Kameraüberwachung ausgestattet, so auch die rd. 50 „Tante M“-Läden mit Verbreitungsgebiet Baden-Württemberg. Unternehmer Christian Maresch aus Reutlingen geht sehr offen mit dieser Thematik um, wie Zeitungsartikel aus der lokalen Tagespresse und Posts auf den Social-Media-Kanälen belegen. Zu den Präventionsmaßnahmen zählt die Abschaffung der Bargeldzahlung in einigen „Tante M“-Märkten, die Beauftragung von Sicherheitspersonal sowie die Einschränkung bzw. der Ausschluss von besonders diebstahlgefährdeten Artikeln wie Energydrinks. In den vier Schweizer Shops von Teo kommt eine AI-basierte Video- und Audioanalyse zum Einsatz, die nicht nur zur Diebstahlprävention, sondern auch zur Sturz- und Aggressorerkennung eingesetzt wird.
Der gesellschaftliche Nutzen der lokalen Versorgungskonzepte und die hohe Akzeptanz in der Bevölkerung sind gute Voraussetzungen für eine weitere Verbreitung der 24/7-Low-Konzepte. Was bleibt, ist die rechtliche Unsicherheit. Da die Rechtslage in allen Bundesländern ähnlich ist, würde ein Kläger gegen die Sonntagsöffnung nicht nur in Hessen, sondern auch in anderen Bundesländern recht bekommen. Mit fatalen Folgen für die Betreiber – weshalb die Forderungen zur Novellierung des Ladenöffnungsgesetzes lauter werden.
Genossenschaftsmodell als Sicherheitskonzept
Norbert Hegmann, Geschäftsführer der Enso E-Commerce GmbH („Tante Enso“) zu den Themen Sonntagsöffnung, Expansion und Sicherheit von 24/7-Stores.
Herr Hegmann, Ihr Unternehmen betreibt aktuell 32 Stores mit 24/7-Öffnung, davon die meisten in ländlichen Regionen. Wie wichtig ist die Sonntagsöffnung für „Tante Enso“?
Wir können bestätigen, dass der Sonntag ein extrem starker Tag ist.
Können Sie nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel, das den Teo-24/7-Stores die Sonntagsöffnung untersagt hat, noch ruhig schlafen?
Wir sind der Meinung, dass es in unserem Verbreitungsgebiet Möglichkeiten gibt, das Thema anzupacken. Aktuell sind wir in den meisten Fällen mit Sonderregelungen und dem Status der Duldung unterwegs. Damit können wir gut leben.
Halten Sie an Ihrer Expansionspolitik mit geplanten 46 Neueröffnungen bis Ende des Jahres fest?
Das Urteil von Kassel hat keinen Einfluss auf unsere Expansionspolitik.
Für 24/7-Stores stellt die Diebstahlprävention eine große Herausforderung dar. Wie gehen Sie dieses Thema bei „Tante Enso“ an?
Alle Läden sind mit einer Videoüberwachung ausgestattet. Das effektivste Sicherheitskonzept von „Tante Enso“ ist aber das Genossenschaftsmodell. Durchschnittlich 40 bis 60 Prozent der Dorfbevölkerung sind Miteigentümer eines Ladens. Wir hatten auch schon Diebstahlsfälle, aber meistens kommt es in einem Dorf schnell raus, wer die Verursacher sind.
Der Zugang zu den „Tante Enso“-Läden ist in den Zeiten ohne personelle Besetzung nur mit einer Kundenkarte möglich. Verschenken Sie damit nicht Umsatzpotenzial?
Wenn wir Personen außerhalb der Dorfgemeinschaft den Zugang zum Laden gewähren würden, hätten wir mit Sicherheit ein größeres Diebstahlproblem. Das hat uns bisher auch davon abgehalten, eine App-Lösung zuzulassen.
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, die Stores technologisch aufzurüsten?
Wir haben vieles ausprobiert und festgestellt, dass der Schwund, den wir in unseren genossenschaftlichen Läden haben, nicht den Aufwand einer Investition beispielsweise in RFID-Technologie rechtfertigen würde.