Durch die zunehmende Ausbreitung der digitalen Preisauszeichnung steigt die Zahl möglicher Anwendungsszenarien für Dynamic Pricing. Gibt es bereits Erfahrungswerte aus der Praxis, die Sie mit uns teilen können?
Viele unserer Kunden haben sich schon lange vor der Einführung digitaler Preisschilder dafür entschieden, Produktpreise dynamisch anzupassen. ESL sind für Dynamic Pricing in der Filiale nicht zwingend erforderlich beziehungsweise für viele strategische Preisentscheidungen nicht grundsätzlich notwendig. Denken wir an wöchentliche Preisentscheidungen oder die Preisauszeichnung bei Frische-, MHD- und Saison-Produkten: In der Regel gibt es ein Preisschild pro Artikel, oftmals liegen aber verschiedene Chargen oder Farb-/Größenvarianten des Artikels im Regal oder der Auslage. Für den zielorientierten Abverkauf greifen Händler deshalb oft auf alternative Methoden der Preisauszeichnung zurück. Die wichtigste Voraussetzung für Dynamic Pricing im Allgemeinen sind digital gestützte Prozesse für das Bestands- und Preis-Management.
Was sind aus Handelssicht die Vorteile und Grenzen von Dynamic Pricing?
Die Fähigkeit, Preise dynamisch an sich verändernde Marktbedingungen anpassen zu können, entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit eines Händlers. Zusätzlich leistet Dynamic Pricing einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit, weil es Abverkaufsprozesse zielgerichtet steuern und umsetzen kann. So werden Abfälle reduziert und gleichzeitig Abschriften vermieden, die sonst üblicherweise entstehen. Darüber hinaus zahlt Dynamic Pricing erheblich auf die Wirtschaftlichkeit eines Händlers ein, weil Preisentscheidungen strategisch, datengetrieben und zielorientierter getroffen werden können. Dynamic Pricing ist inzwischen in vielen Branchen zur Notwendigkeit geworden, denn jeder, der die Dynamik seines Markts nicht mitgehen kann, verliert jetzt schon jeden Tag ein Stück Wettbewerbsfähigkeit.
In welchen Handelsbranchen kommt Dynamic Pricing vor allem zum Einsatz?
Dynamic Pricing kommt überall dort zum Einsatz, wo die Prozesse zur Marktanalyse und Preisfindung sehr komplex sind und ein hoher Preisanpassungsdruck herrscht, zum Beispiel bedingt durch stetige Veränderungen der Kunden-Nachfrage, kurze Produktlebenszyklen oder häufige Sortimentsänderungen. Dies ist sowohl im B2B- als auch im B2C-Handel häufig der Fall, sodass Dynamic Pricing für sehr viele Branchen zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil wird – online genauso wie offline. Besonders zu nennen sind hier die Fashion- und Lifestyle-Branche, der Lebensmittelhandel, die DIY-Branche oder FMCG-Händler.
Wie weit ist Dynamic Pricing im deutschen Handel heute verbreitet?
Dynamic Pricing hat sich in den vergangenen zehn Jahren nahezu flächendeckend im deutschen Handel verbreitet. Anfangs konzentrierte sich der Einsatz vor allem auf den E-Commerce. In den stationären Handel hielt Dynamic Pricing innerhalb der letzten Jahre starken Einzug. Dabei gibt es verschiedene Evolutionsstufen. Diese reichen von statischen Repricing-Verfahren über regelbasierte Preisanpassungen auf Grundlage dynamischer Trigger bis hin zu KI-gesteuerten Preisentscheidungen auf Basis umfassender Angebots- und Nachfrageinformationen.
Welche Besonderheiten gilt es, bei der Preisgestaltung im Lebensmittelhandel zu beachten?
Für den Einsatz von Dynamic Pricing im Lebensmittelhandel ist es besonders wichtig, die Technologie sehr nah an den bestehenden Prozessen aufzubauen und in die gegebenen Abläufe zu integrieren. Zum Beispiel hat das Personal auf der Fläche üblicherweise viele sehr verschiedene Aufgaben und arbeitet nicht selten unter Zeitdruck, sodass der Erfolg des Einsatzes neuer Technologien vor allem von der Akzeptanz durch die verantwortlichen Mitarbeiter abhängt. Genau da muss Dynamic Pricing ansetzen und ein intuitives Bestands- und Preismanagement ermöglichen, beispielsweise durch den Einsatz auf bereits vorhandenen, mobilen Endgeräten.
Dynamic Pricing auf der EuroCIS 2022
Der Trend zu Dynamic Pricing, Electronic Shelf Labelling (ESL) und der Digitalisierung der Filialen ist auch Thema der EuroCIS 2022, die vom 31. Mai bis 02. Juni in Düsseldorf stattfindet. In den Hallen 9 und 10 des Messegeländes können Fachbesucher:innen sich einen aktuellen Überblick das Angebot an ESL-Lösungen für den Einsatz im Handel verschaffen. Während der Messe finden auf der Retail Technology Stage und der Connected Retail-Stage Vorträge zu den Themen KI-unterstütztes Pricing und ESL statt.
Wie hoch ist das Investment für den Retailer?
Je näher Dynamic Pricing an bestehenden Prozessen ausgerichtet wird, desto planbarer ist das Investment. Zudem empfehlen wir unseren Kunden, die Komplexität zu Projektbeginn gering zu halten, zum Beispiel indem im ersten Schritt nur ausgewählte Filialen oder Sortimente angebunden werden. Ein flächendeckender Roll-out lässt sich anschließend sehr zielorientiert und innerhalb kurzer Zeit umsetzen. Unsere Kunden erreichen den ROI erfahrungsgemäß binnen weniger Monate.
Gibt es eine „optimale“ Häufigkeit von Preisänderungen?
Ja. Abhängig vom Sortimentsbereich, der Leistungsfähigkeit der Preisauszeichnung und unter Berücksichtigung der Kundenerwartung, liegt eine optimale Frequenz der dynamischen Preisberechnung zwischen dreimal am Tag und einmal in der Woche. Dabei muss das Ergebnis der Berechnung nicht automatisch einen neuen Preis ergeben. Aus Sicht des Ergebnispotenzials ist es sinnvoll, Preise häufig zu überprüfen. Auf diese Weise können Veränderungen in der Nachfrage nahtlos auf die Preisgestaltung übertragen werden, wodurch Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit eines Händlers gesteigert werden.
Laut EHI-Ergebnissen kann von einer wie im E-Commerce bereits üblichen automatisierten, KI-basierten Preisgestaltung mit untertägig wechselnden Preisen im stationären Handel noch nicht gesprochen werden. Wie sehen Sie hier die zukünftige Entwicklung?
Auch der E-Commerce hat nicht mit mehreren Preisanpassungen pro Tag begonnen. Hier hat sich im Lauf der letzten Jahre die Frequenz in ausgewählten Sortimentsbereichen schrittweise auf dieses Maß erhöht. Eine ähnliche Entwicklung, schätze ich, werden wir in den nächsten Jahren auch im stationären Handel sehen. Wobei ich davon ausgehe, dass die mittlere Frequenz der Preisänderungen im stationären Einzelhandel auch langfristig nicht unter einem Tag liegen wird.
Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz? Und woher weiß die KI, welcher Preis der „richtige“ ist?
KI unterstützt bei der Preissetzung, indem sie die Teile des Preisfindungsprozesses übernimmt, die manuell oder mit festen Regeln nicht zu bewältigen sind. KI ist in der Lage, komplexe Datenmengen zu verarbeiten und Entscheidungsvorlagen zu berechnen, die eine größtmögliche Menge von Einflüssen in Echtzeit berücksichtigen. Klassische statistische Verfahren, die ausschließlich historische Daten verarbeiten können, sind dabei in der Vergangenheit regelmäßig an ihre Grenzen gestoßen. Um den „richtigen“ Preis zu ermitteln, setzt die KI unter anderem Preis und Absatz mehrerer Produkte in Zusammenhang und bezieht in die Entscheidungsfindung eine große Zahl von Einflussfaktoren ein, darunter aktuelle Bestände, Kreuzpreiselastizitäten und aktuelle Wettbewerbsinformationen.
Wo sehen Sie Dynamic Pricing in fünf Jahren?
Wir haben heute Kunden, für die Dynamic Pricing noch vor fünf Jahren kein Thema war, weil es damals in ihrem Sortimentsbereich noch nicht von wettbewerblicher Relevanz war. Heute setzen diese Kunden ganz bewusst und erfolgreich auf diese Technologie. Ich denke, diese Entwicklung wird sich sehr dynamisch fortsetzen und damit auch die Preisbildung im stationären Handel mehr und mehr prägen. Zudem werden ESL-Infrastrukturen kostengünstiger und sich damit weiter durchsetzen, sodass für mehr und mehr Sortimentsbereiche auch eine tägliche Preisvalidierung durch Dynamic Pricing wirtschaftlich zu betreiben sein wird. Ich bin mir sicher, dass in weniger als fünf Jahren Dynamic Pricing für die Wettbewerbsfähigkeit von Handelsunternehmen unerlässlich sein wird.
Das Interview führte Imke Hahn.
Über Jens Scholz
Jens Scholz studierte an der TU Chemnitz Mathematik mit dem Schwerpunkt Statistik. Er gehört zu den Gründern der Prudsys AG und verantwortet als Vorstand seit vielen Jahren die Geschicke des Unternehmens. Die Prudsys AG bietet cloudbasierte KI-Lösungen für den Handel und ist seit 2017 Teil der GK Software Gruppe. GK Software ist mit mehr als 365.000 Installationen in über 65 Ländern führender europäischer Anbieter von integrierten Filiallösungen für den Handel.