Der Handel investiert derzeit massiv in die Digitalisierung seiner Filialen. Insbesondere elektronische Regaletiketten, im Fachjargon „Electronic Shelf Labels“ (ESL) genannt, sind ins Zentrum der Aufmerksamkeit und Kalkulationen gerückt. Jüngstes Beispiel ist der Drogeriemarkt-Betreiber dm. Die Karlsruher testen die digitalen Preisschilder momentan in einem Markt in Ettlingen. In dem Pilotprojekt geht es darum, „das Kosten-Nutzen-Verhältnis zu evaluieren“, sagt Roman Melcher, als dm-Geschäftsführer verantwortlich für das Ressort IT/dmTech.
Eine Roll-out-Entscheidung ist dem ITChef zufolge noch nicht gefallen. Die E-Etiketten, die nach Informationen von stores+shops von dem französischen ESL-Anbieter SES-Imagotag stammen, decken das komplette Filialsortiment ab. dm war hierzulande eines der wenigen führenden Handelsunternehmen, das bislang noch keine ESL im Einsatz hatte. Das lag daran, dass einer der Hauptvorteile der Technik – die schnelle, automatisierte Preisänderung – für dm kein ausschlaggebendes Kriterium ist. Hintergrund ist die „dm-Dauerpreisstrategie“.
Diese garantiert der Kundschaft, dass sich die Preise nicht in kurzen Zeitabständen ändern, mindestens vier Monate lang. „Da wir auf kurzfristige, lockende Angebote verzichten“, sind die Einsparungen beispielsweise beim Etikettendruck deutlich geringer als bei anderen Händlern. Somit ist „der Vorteil der Preisänderung nicht ausreichend, um die Kosten aufzuwiegen“, sagt Melcher.
Elektronische Preisetiketten: Schlaue Schilder
Vorteile
- Weniger Aufwand, weniger Personalkosten
- Preissicherheit, Fehlerminimierung, weniger Kundenreklamationen
- Dynamic Pricing/schnelle, untertägige Preisänderungen, schnelle Reaktion auf Wettbewerbspreise, Markdowns verderblicher Frischware
- Kommunikation/Interaktion mit Kundschaft und Personal (Instore-Navigation, Self-Scanning und Self-Checkout, Erleichterung von Bestandsmanagement und Regalorganisation)
- Zukunftssicherheit
Nachteile
- Hohe Investitionskosten (v. a. für vollgrafische Displays)
- schwierige Kalkulation der Haltbarkeit/Batterielaufzeit
- Temperaturempfindlichkeit bei Minusgraden
Viele Vorteile
Die Digital-Displays können heute aber mehr, als nur Preise anzeigen. In Kombination mit dem integrierten Nahfunk NFC, einer LED-Leuchte am Etikett und dem MDE-Gerät des Personals können die schlauen Schilder bei der Filialkommissionierung und dem Auffinden von Duschgel, Schaumfestiger & Co. helfen. Sie können den Mitarbeitenden dank des eingebauten LED-Blinklichts den Weg zum rechten Regal weisen und so die Warenverräumung erleichtern. Das spart Zeit und Geld.
Den Charme der digitalen Preisschilder haben bereits etliche Händler hierzulande erkannt. Zuletzt machten die deutschen Lebensmitteldiscounter mit ihren Tests und Roll-out-Entscheidungen von sich reden. So hat Aldi Nord offenbar vor, ESL in großem Stil auszurollen: „Wir beschäftigen uns mit Plänen zu einem weiteren Roll-out und fokussieren Deutschland und Frankreich“, so das Unternehmen auf Anfrage von stores+shops. Aktuell testet Aldi Nord in drei Märkten: in Gelsenkirchen und Essen sowie in einem Markt in Frankreich. Den Unternehmensangaben zufolge sind die E-Etiketten mehrerer Anbieter im Test – offenbar Solum, Hanshow und SES-Imagotag –, eine Entscheidung für einen von ihnen sei noch nicht getroffen.
Auch Lidl hat sich Branchenkreisen zufolge entschlossen, ESL deutschlandweit einzuführen, zunächst bei Obst und Gemüse. Dieses Sortiment ist besonders sensibel und für ESL geeignet. Denn dank sekundenschneller Preisänderungen auf Knopfdruck sind Markdowns Verderb-gefährdeter Frischware leicht umzusetzen und damit Abschriften zu verhindern. Das ist ein wichtiger wirtschaftlicher Aspekt – und immer mehr auch ein gesellschaftlicher, Stichwort Vermeidung von Lebensmittelverschwendung.
Dasselbe gilt für die Vermeidung etlicher Tonnen an Papier und Toner. Das spart Geld und schont die Ressourcen, ganz im Sinne von Nachhaltigkeitsstrategien und eines umweltfreundlichen Images. Bei Lidl kommen vollgrafische E-Paper-Displays von SES-Imagotag zum Einsatz. Diese sind dank E-Ink-Technik kaum von ihren Papierkollegen zu unterscheiden. Die Tags sind direkt mit Lidls Warenwirtschaftssystem verbunden, das alle relevanten Produktinformationen wie Artikelname, Preis, Kilo-Preis und Herkunftsland nahezu in Echtzeit an die Regale funkt.
Aktuell sind „einige Filialen im Kreis Heilbronn“ mit ESL ausgestattet, heißt es seitens Lidl. „In ausgewählten Filialen“ – darunter in einer kürzlich eröffneten Filiale in Mülheim an der Ruhr sowie in Duisburg – sammelt auch Aldi Süd erste Erfahrungen mit Hightech-Tags. Dort zu sehen sind offenbar Schilder des chinesischen Anbieters Hanshow, der auch Bartels-Langness (Famila) mit seinen ESL ausstattet.
ROI schneller erreicht
Dass inzwischen selbst die mit spitzer Feder kalkulierenden Discounter in eine Technik investieren, die über Jahre hinweg als zu teuer galt, zeigt den Kulturwandel im Lebensmittelhandel – der Unterschied zwischen Discount und Supermarkt wird kleiner. Es zeigt aber auch, dass Flexibilität und kurzfristige Preisanpassungen in einer immer mehr von Aktionen und Online-Konkurrenz getriebenen Branche erfolgsentscheidend sind. Nicht zuletzt belegt das Interesse der Discounter an ESL aber auch, dass der Return on Investment immer schneller erreicht wird. Denn während Personalkosten und Fachkräftemangel steigen, sinken die Kosten für die Systeme aus Anzeigetafeln, Funkabdeckung der Filiale und Software mit Warenwirtschaftsanbindung.
Viel diskutiert wird in der Branche, dass ESL die technische Voraussetzung für Dynamic Pricing im stationären Handel sind. Darunter versteht man eine Strategie, bei der Algorithmen die Preise automatisch berechnen – auf Basis externer Faktoren wie Wettbewerbspreisen, Wetter sowie Angebot und Nachfrage. Das dient wiederum als Basis dafür, die Preise in Sekundenschnelle anpassen und untertägig ändern zu können. In einer Zeit volatiler Preise und eines sich verschärfenden Preisdrucks kann das sinnvoll sein, um rasch auf Preissenkungen oder -erhöhungen der Konkurrenz zu reagieren und die maximale Kaufkraft abzuschöpfen, Abschriften zu verringern sowie generell Angebot und Nachfrage feiner auszutarieren. In Web- Shops ist das nichts Außergewöhnliches.
Nicht so im stationären Handel. Dort traut sich bisher kaum jemand an das heiße Eisen heran, zu groß ist die Gefahr, sich wütende Kunden oder einen Shitstorm einzuhandeln. Und so erteilen Unternehmen wie Lidl, Kaufland und Rewe diesen „Flatterpreisen“ eine klare Absage: „An unserer Preisgestaltung ändert sich dadurch nichts“, heißt es unisono. „Wir nutzen die Technik tagsüber nur für Preissenkungen“, führt Kaufland aus. Bereits seit 2016 setzt die Lidl-Schwester digitale Preisschilder bundesweit in allen Obst- und Gemüseabteilungen ein.
Aktuell sind rund 1.200 von insgesamt 1.300 Kaufland-Filialen in Deutschland und sieben weiteren Ländern Europas mit ESL ausgestattet. Die Technik steuert der britische Anbieter Displaydata bei. Einer der Vorreiter bei der ESL-Einführung in Deutschland war Rewe mit seiner Entscheidung, ab 2013 alle Neubauten und zu renovierenden Märkte mit E-Etiketten auszustatten. Derzeit ist das bei rund 2.000 von 3.600 Rewe-Märkten in Deutschland sowie rund 175 von 1.150 Billa- und 50 von 140 Merkur-Filialen in Österreich der Fall. Wie es heißt, ist Solum der Lieferant für Deutschland sowie SES-Imagotag für Österreich. Branchenkreisen zufolge läuft aktuell eine ESL-Ausschreibung, die Entscheidung steht noch aus.
Der Nutzen ist gestiegen
Ulrich Spaan, IT-Experte und Mitglied der Geschäftsleitung des EHI, über den Boom bei digitalen Preisschildern
Viele Filialisten im deutschen Handel testen aktuell ESL oder rollen die Technik bereits aus. Wie erklären Sie sich das?
Die Technologie hat sich weiterentwickelt. Die Preisschilder sind grafisch ansprechender und vielfältiger, die Lesbarkeit hat sich verbessert, und es besteht oft die Möglichkeit der Nutzung von Zusatzfunktionen, die über die reine Preisanzeige hinausgehen. Kurzum: Der Business Case ist rechenbarer geworden und der Nutzen gestiegen.
Die schlauen Schilder sind die technische Voraussetzung für Dynamic Pricing im stationären Handel. Wird das kommen?
Im E-Commerce ist Dynamic Pricing bereits weit verbreitet – dort berechnen Algorithmen unterschiedliche Preise in Abhängigkeit von Kundenprofilen, saisonalen Aspekten, Tageszeiten und anderen Faktoren. Im stationären Handel ist das bisher nicht der Fall, weil niemand das Vertrauen der Kunden verspielen möchte. Daher glaube ich nicht, dass wir an den Regalen ein untertägiges Auf und Ab der Preiseerleben werden.
Warum funktioniert das in Web-Shops, an Tankstellen und bei Flugbuchungen, nicht aber in Supermärkten?
Im Supermarkt ist die Preissensibilität der Kunden sehr hoch. Wenn eine Packung Chips abends mehr kostet als morgens, wird das vielen Verbrauchern sofort auffallen. Zudem gibt es bei einer klassischen Kassensituation auch einen zeitlichen Versatz zwischen der Wahrnehmung eines Regalpreises und dem Bezahlen der Ware. Ein häufiges Ändern von Preisen tagsüber würde zu einer großen Verwirrung bei der Kundschaft führen.
E-Etiketten können mittlerweile mehr als Preise zeigen. Was sind die künftigen Top-Anwendungen?
Im Bereich der Prozessoptimierung sehe ich die größten Chancen. Wenn über die Etiketten Bestellungen und Inventuren durchgeführt, Regalbestände erfasst und drohende Out of Stocks gemeldet werden, ist das für viele Händler sehr attraktiv. Auch auf Kundenseite sehe ich Potenzial. Denn wer kennt das nicht, vor einem Regal zu stehen und verzweifelt nach einem bestimmten Artikel zu suchen? Ein blinkendes ESL kann Abhilfe schaffen.