An den Schultern zu eng, an den Ärmeln zu kurz – ein Oberteil, das perfekt sitzt, findet Frauke Link nur selten auf Anhieb. „Für biologische Körpermaße sind die Normgrößen der Hersteller schwierig“, sagt die promovierte Mathematikerin. Schlecht sitzende Artikel und hohe Retourenquoten sind für die Modebranche ein gravierendes Problem.
3D-Körpermodell
Um es zu lösen, haben Frauke Link und ihre Kollegin Verena Ziegler 2020 das Start-up Beawear gegründet. Ihre Vision: optimierte Schnitte und personalisierte Größenempfehlungen, die neben den Herstellerangaben auch die individuelle Physiognomie des Kunden berücksichtigen. Ihre patentierte SaaS-Software soll dafür sorgen, dass beim Onlineshopping künftig nur noch passende Artikel im Warenkorb landen.

Nach dem Körperscan mit dem eigenen Smartphone oder Tablet erstellt die Beawear-Software ein persönliches 3D-Körpermodell.
Foto: Beawear
Kund:innen nehmen dazu mit der Kamera ihres Smartphones oder Tablets zunächst eine Rundum-Ansicht von sich auf. Die Beawear-Software erstellt anhand der Bilddaten ein persönliches 3D-Körpermodell. Zusammen mit individuellen Stil- und Passformvorlieben wird der digitale Zwilling dann in der Cloud hinterlegt. Beim Shopping in kooperierenden Shops erhält die Kundschaft Größen- und Modellvorschläge auf Basis ihrer persönlichen Maße und Präferenzen. Einzelhändler könnten das Plug & Play-Tool ohne großen Aufwand in ihre Onlineshops einbinden, versprechen die Gründerinnen.
Erster Anwender ist das Münchner Unternehmen Thokk Thokk, das einen Online-Marktplatz für nachhaltige Mode betreibt. Mit weiteren Modeanbietern sei man im Gespräch, so Verena Ziegler. Kennengelernt haben sich die App-Erfinderinnen im Open Innovation Lab der Hochschule Konstanz, wo beide an unterschiedlichen Forschungsprojekten mit 3D-Technologie arbeiteten. Mit ihrer Lösung bewegen sich die Beawear-Gründerinnen in einem dynamischen Marktumfeld mit jungen, innovativen Anbietern.
Digitaler Pass
Das internationale Marktforschungsunternehmen Apparel Resources prognostiziert dem Markt für 3D-Scanning und digitale Zwillinge bis 2026 ein Wachstum auf knapp 50 Mrd. Dollar. Neben Software-Start-ups wie Beawear und Fision aus Europa oder Tryfit, Zeekit und 3DLook aus den USA arbeiten auch Hersteller von 3D-Scannern, wie das Berliner Start-up Nexr oder Onefid, an Scanning-Apps und digitalen Plattformen. Das Kölner Unternehmen hat seine Wurzeln in der Schuhherstellung und möchte eine Art digitalen Pass mit sämtlichen Körpermaßen für branchenübergreifendes Onlineshopping etablieren.
Zu den frühen Anwendern von 3D-Technologie im Einzelhandel gehört der britische Lingerie-Spezialist Rigby & Peller. Dort haben Kundinnen bereits seit 2016 die Möglichkeit, sich in der Umkleidekabine vermessen zu lassen. Das Unternehmen hat mehrere Standorte, darunter auch einige deutsche Filialen, mit besonderen Spiegeln ausgestattet, in die selbst entwickelte 3D-Scanner integriert sind. Anhand des im Laden erstellten Bodyscans kann das Filialpersonal gezielt passende Premium-BHs empfehlen. Kundinnen können die Wäschestücke zudem virtuell am eigenen Spiegelbild anprobieren.
Bodyscan per Smartphone
Unternehmen wie H&M, Zalando oder Walmart holen das Thema digitaler Zwilling jetzt in ihre Apps. Zalando arbeitet schon seit mehreren Jahren intensiv am Thema Größenempfehlungen. Der Onlinehändler nutzt dazu u. a. menschliche Fitting Models, Heatmaps, 2D-Scans und Machine Learning. 2020 hat der DAX-Konzern das Schweizer Start-up Fision übernommen, das ähnlich wie Beawear eine mobile 3D-Scanning-Software entwickelt hat.
Mit der Integration in die eigene Plattform will Zalando die Kaufberatung weiter personalisieren und neben der Kaufhistorie künftig individuelle Körpermaße der Kund:innen berücksichtigen. Auch der Sportschuh-Fachhändler Joe Nimble, eine Tochtermarke des deutschen Schuhherstellers Bär, hat 2021 einen mobilen Fuß-Scanner für iOS-Smartphones gelauncht.

Der Sportschuh-Fachhändler Joe Nimble hat 2021 einen mobilen Fuß-Scanner für iOS-Smartphones gelauncht.
Virtual Fitting
Die App basiert auf der 3D-Scanning- Technologie des U.S. Start-ups Tryfit. Dessen Wettbewerber Zeekit wurde 2021 von Walmart gekauft. Der U.S.-Handelsriese ist dabei, die Virtual-Fitting-Technologie von Zeekit in die eigene App zu integrieren. Seit kurzem können Walmart-Kund:innen bereits Kleidungsstücke an ausgewählten Models begutachten, die dem eigenen Typ und der persönlichen Figur nahekommen. Die Weiterentwicklung zum digitalen Zwilling ist geplant.
H&M testete kürzlich ebenfalls eine Virtual-Fitting-Lösung, die das hauseigene Innovation Lab H&M Beyond gemeinsam mit dem Berliner Start-up Nexr Technologies entwickelt hat. In zwei Filialen in Hamburg und Berlin wurden im Herbst 2021 kompakte Scan-Kabinen aufgestellt. Wer sich vermessen lässt, erhält einen fotorealistischen Avatar und kann damit in der H&M-App Kleidungsstücke virtuell ausprobieren. Der Fashion-Filialist verspricht sich von zutreffenden Größenangaben zum einen ein besseres Einkaufserlebnis im Store, zum anderen die Chance, Onlineretouren zu reduzieren.
Anwendungsmöglichkeiten für 3D-Körperscan-Technologien sieht Beawear-Gründerin Frauke Link nicht nur im Onlinehandel, sondern auch in der Produktion. Auf Basis individuell angepasster Schnittmuster könnten passgenaue Kleidungsstücke künftig kostengünstig und on demand in lokalen Micro Factories angefertigt werden. „Mode muss neu gedacht werden“, sagt sie. Der individuelle Körperbau ließe sich digital nicht an standardisierte Schnitte und Größen anpassen – umgekehrt sei das mit innovativen digitalen Lösungen durchaus möglich.