Ist Multichannel-Retailing ein Hype?
Multichannel-Retailing ist Realität. Die Spielregeln in den Märkten werden neu definiert. Traditionelle Geschäftsmodelle werden zerstört, neue entstehen. Stationäre Handelsunternehmen, die zu viel Zeit verlieren, die gelähmt sind von der Angst, ihr stationäres Geschäft zu kannibalisieren, werden zu den Verlierern zählen.
Wer zu spät kommt…?
…den bestraft die Marktdynamik, und zwar immer wieder. Schnell schlägt groß. Agil schlägt etabliert. Unternehmer unterschätzen häufig das Tempo der Veränderung. Nehmen wir zum Beispiel den globalen Handy-Markt. Im Jahr 2005 hatte Nokia Symbian einen Marktanteil von weltweit 70 Prozent, im Jahr 2013 von null Prozent. Parallel dazu kletterte der Marktanteil der Android-Smartphones von einem auf rund 80 Prozent, Android ist damit das dominante Betriebssystem für mobile Endgeräte.
Wer sind die Treiber des Online-Booms?
Die Konsumenten und ihr (mobiles) Medienverhalten. Die Anzahl der mobilen Endgeräte, ihre Konnektivität und Funktionalität steigen rasant, das Nutzungsverhalten der Konsumenten wird immer routinierter und professioneller. Dies wird den bestehenden Trend zum Online-Shopping nochmals beschleunigen. Laut Forrester Research wird der E-Commerce-Umsatz in Europa von heute 139 auf 234 Milliarden Dollar im Jahr 2018 wachsen, in Deutschland von 35,5 auf 54,7 Milliarden Dollar. Der Zuwachs wird vor allem von Verkäufen stammen, die über mobile Devices wie Smartphones und Tablets abgeschlossen werden.
Wie zum Beispiel in den USA schon zu beobachten.
Ja, bei den Top 10 der Retail-Webshops in den USA kommen heute schon 30 Prozent der Website-Besucher über mobile Endgeräte. Inzwischen 14 Prozent der Online-Käufer in den USA gehen generell nicht mehr über stationäre Rechner in die Shops, sondern sie nutzen ausschließlich Smartphone und Tablet.
Sind deutsche Handelsunternehmen auf diese Entwicklung vorbereitet?
Sie bemühen sich darum. Langsam reift die Erkenntnis, dass es um eine grundlegende konzeptionelle Neuorientierung geht. Multichannel-Retailing erfordert neue Geschäftsmodelle. Die digitale Transformation umfasst viel mehr als nur den Einstieg in den E-Commerce per Webshop, sondern sie wirkt tief hinein in die unternehmerischen Prozesse, in die Kommunikation, in das Recruiting, in die gesamte Unternehmenskultur.
Multichannel-Transformation muss Sache der Führungsetage sein?
Selbstverständlich. Digital ist ein Vorstandsthema. Die Ernennung eines Chief Digital Officer auf Vorstandsebene ist oft das richtige Signal im Unternehmen, dass dieses strategische Thema von der Führung ernst genommen wird. Die Geschäftsleitung braucht eine gemeinsame digitale Vision und muss konsequent handeln. Sie braucht Risikobereitschaft und Durchsetzungskraft, außerdem produktive Unruhe und eine neue Fehler-Kultur – Eigenschaften, die Online-Pure-Player erfolgreich gemacht haben.
Und mehr digitale Kompetenz in allen relevanten Leistungsbereichen.
Ein großes Problem für gewachsene stationäre Unternehmenskulturen. Digitale High-Potentials gründen im Zweifel lieber ein Start-up, als sich mit den Restriktionen und Widerständen, mit den Besserwissern und Blockierern in den Handelsbetrieben auseinanderzusetzen. Digitale Transformation braucht also andere Führungskulturen und ein anderes Recruiting. Der US-Bürohändler Staples zum Beispiel hat in Cambridge/Massachusetts ein „E-Commerce Innovation Center“ aufgebaut, um digitale Talente etwa von der Harvard University und dem MIT für sich zu gewinnen.
Hört sich alles sehr kostenintensiv an.
Klar, der Transformationsprozess eines traditionell stationären zum integrierten Multichannel-Händler erfordert einen hohen Einsatz kreativer und finanzieller Ressourcen. Die Geschäftsleitung muss bereit sein, ein umfassendes Investitionsprojekt aufzulegen. Die alternative Strategie, nämlich nichts tun und Marktanteile verlieren, ist mittelfristig jedoch deutlich teurer.
Zweifeln Sie, was den deutschen Handel betrifft, an dieser Bereitschaft?
Der US-Händler Nordstrom hat kürzlich bekanntgegeben, dass er bis 2019 jährlich 40 Prozent seines Technologie-Budgets in den Ausbau des Online- und Multichannel-Bereichs investieren wird. Eine ähnliche Zahl habe ich aus Deutschland bislang nicht gehört.
Deutsche Händler hinken im internationalen Vergleich hinterher?
In Japan, UK und den USA ist der Druck der Konsumenten auf den Handel, E-Commerce- und Multichannel-Services anzubieten, größer. Die Erträge der Händler sind dort außerdem im Schnitt höher, entsprechend ist mehr Spielraum für Investitionen vorhanden. Dies sind die beiden wichtigsten Gründe, warum große Handelsunternehmen in diesen Ländern nach meinem Eindruck experimentierfreudiger, risikobereiter, insgesamt einen Schritt weiter sind bei der Migration zum integrierten Multichannel-Anbieter.
Welche Beispiele haben Sie dafür?
Wo soll ich anfangen? Im New Yorker Superstore des Consumer Electronics-Händlers B&H ist unter der Decke ein Transportsystem installiert. Der Kunde entscheidet sich nach exzellenter persönlicher Beratung von Profis vor Ort, der Artikel wird per Tablet geordert und kommissioniert, der gesamte Warenkorb wird in den Hintergrund transportiert und dort verpackt. Der Kunde kann an der Kasse spontan entscheiden, ob er seine Ware gleich mitnehmen oder sie zugeschickt haben möchte – ein Paradebeispiel für die Verbindung von Online- und Offline-Handel. Oder das Warenhaus Macy’s: Dort sorgt ein digitales Kundenbindungsprogramm dafür, dass Käufe im realen stationären Geschäft mit auf das Smartphone gespielten Bonuspunkten belohnt werden. Auch Third-Party-Programme wie Shopkick werden integriert. Oder Walmart: Das Unternehmen hat sehr früh damit begonnen, Kundendaten zu sammeln und Kundenprofile zu erstellen. Diese Erkenntnisse nutzt der Händler jetzt in Form vielfältiger digitaler, die Vertriebskanäle verbindender Services.
Worauf kommt es bei der Umsetzung solcher Multichannel-Konzepte an?
Die Grundregel lautet: Understand the Customer Journey. Händler müssen sich heute noch intensiver darum bemühen, worum sie sich schon immer bemüht haben: Sie müssen ihre digital orientierten Kunden und deren neues Verhalten verstehen. Der „Moment of Truth“ beim Einkauf spielte sich früher am Regal ab. Heute bereiten die Kunden ihre Kaufentscheidung weitgehend online vor – der „Zero Moment of Truth“. Damit ändern sich die Anforderungen an die Kundenbetreuung am Point of Sale. Es geht zum Beispiel darum, ein Bild mit dem schicken neuen Kleid zu posten und per Facebook oder Google+ die Meinung von Freunden einzuholen. Der Händler also muss den stationären Einkauf real und digital orchestrieren, ihn damit zum Erlebnis machen.
Betrifft die Entwicklung alle Handelsbranchen?
Ja, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Forrester Research geht bis 2018 in Europa von durchschnittlichen Wachstumsraten von jährlich 12 Prozent für den E-Commerce-Umsatz aus. Deutlich unterdurchschnittlich zum Beispiel im Bereich der Einrichtungsgegenstände, deutlich überdurchschnittlich im Bereich Lebensmittel. Laut Forrester wird Food in Europa bis 2018 den Bereich Consumer Electronics als Nummer-eins-Segment verdrängen.
Eine aus deutscher Sicht sehr gewagte Prognose.
Das stimmt. Tesco in England arbeitet mit vier bis fünf Prozent Rendite, die deutschen Discounter mit einem halben Prozent. Die Preisspirale nach unten lässt im deutschen Lebensmittelhandel wenig finanziellen Spielraum für Innovationen. Wer aber keine Online- Services anbietet oder diese nicht offensiv vermarktet, kann seine Kunden auch nicht zum Online-Shopping animieren. Doch das ändert sich gerade – siehe die Initiative der Rewe Group. Ich bin überzeugt, dass schon bald Dynamik in den deutschen Markt für Online-Foodservices kommt.
Mit Konsequenzen für die Filialnetze?
In Deutschland befindet sich an jeder Ecke ein Supermarkt – das Überangebot an Verkaufsfläche wird sich drastisch reduzieren. Wir sehen schon heute bei einem Online-Marktanteil von unter einem Prozent, dass Märkte schließen.
Gilt das für den gesamten Handel?
Die Brick & Mortar-Ära ist endgültig vorbei. Die digitale Wirtschaft greift alle ineffizienten Prozesse und Strukturen in den traditionellen Märkten an. Stationäre Händler werden kritisch überprüfen, welche Präsenz-Sortimente sie in ihren Läden überhaupt noch brauchen. Sie werden ihre Filialnetze ausdünnen und Läden mit vergleichsweise kleineren Flächen betreiben. Das lässt sich schon heute an vielen Beispielen ablesen. Der UK-Elektronikhändler Argos etwa bewirtschaftete vor 10 Jahren noch sehr große Häuser – heute sind seine Verkaufsflächen deutlich kleiner, aber der Händler generiert 30 Prozent seines Umsatzes über Click & Collect.
Wie sehen dann unsere Innenstädte aus?
Wir werden auch künftig in einer sehr realen und sehr haptischen Welt leben und einkaufen – allerdings fokussiert auf bestimmte Sortimente und Artikel. Die City-Läden werden tendenziell kleiner, aber sie werden uns viel mehr Einkaufserlebnisse, viel bessere und individuellere Services bieten, viel interessantere Geschichten erzählen. Händler wie zum Beispiel Globetrotter in Deutschland, T2B in Australien, Teavanna oder Shinola in den USA stehen für diese neuen Handelskonzepte.
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Das Interview führte Klaus Manz.