Herr Melcher, mit welchem Thema werden sich die IT-Abteilungen großer Handelsfilialunternehmen nach Ihrer Einschätzung zukünftig am meisten auseinandersetzen?
Da gibt es mehrere. Ein sehr wichtiges Thema ist aber die Zentralisierung, weg von den Filial-Servern, hin zu zentralen Anwendungen. Zentralisierung in Verbindung mit Virtualisierung wird für alle großen Unternehmen in irgendeiner Form kommen. Profitieren wird vor allem die Warenwirtschaft. Das aufwändige, dezentrale Handling von Informationen entfällt, wenn die Filialdaten und Filialanwendungen zentral gehalten und gesteuert werden. Parallel zur Zentralisierung gewinnen die Web-Technologie als Benutzerinterface sowie breitbandiger Datentransfer für filialisierte Handelsunternehmen immer mehr an Bedeutung.
Die Zentralisierung von Filialanwendungen ist mit Risiken verbunden.
Wie gehen Sie damit um?
Bei Kassensystemen gibt es Applikationen, die ohne zentrale Instanzen gar nicht laufen würden. Beispiel Gutschein-Server: Wenn Sie in einem dm-Markt eine Gutscheinkarte laden, können Sie mit dieser Karte schon wenige Minuten später in jeder anderen dm-Filiale bezahlen. Dies ist nur mit einem zentralen Gutscheinserver möglich. Fällt dieser aus, dann entfällt auch die Möglichkeit, einen Gutschein in einer anderen Filiale einzusetzen. Man muss die Risiken kennen und dann entsprechend absichern, sonst kann man manche Applikation nicht sinnvoll anbieten.
Welche innovativen Zahlungssysteme am POS haben Ihrer Einschätzung nach die besten Aussichten, sich am Markt durchzusetzen?
Die kontaktlosen Verfahren werden an Bedeutung gewinnen. Das kontaktlose Bezahlen per Karte oder Smartphone wird wahrscheinlich kommen, aber die Entwicklung wird Zeit brauchen.
Welche Hürden stehen einer schnelleren Umsetzung im Wege?
Es fehlt noch an einer einheitlichen, universell nutzbaren NFC-Zahltechnologie. Ein weiterer Aspekt ist das Kundenverhalten. Knapp zwei Drittel aller Zahlungen in den dm-Märkten werden heute nach wie vor mit Bargeld getätigt. Und jetzt überlegen Sie einmal, wie lange wir schon bargeldlos an den Kassen bezahlen können. Wenn Sie das auf die Frage übertragen, wie lange es dauern wird, bis ein großer Anteil der Zahlungs-Transaktionen kontaktlos abgewickelt wird, dann reden wir von einem Zeitraum nicht unter zwei Jahren. Vermutlich sind zehn Jahre eher realistisch.
Seit einigen Monaten können dm-Kunden in Testregionen Kleinbeträge kontaktlos mit der Girocard bezahlen. Wie wird „Girogo“ von den Kunden angenommen?
Es ist eine Tendenz erkennbar, dass auch kleinere Einkaufsbons bargeldlos bezahlt werden. Allerdings auf einem eher niedrigen Niveau. Der Anteil der Kunden, die „Girogo“ in den rund 40 am Feldversuch beteiligten dm-Märkten nutzt, liegt deutlich unter einem Prozent. Das Verfahren hat zweifellos Vorteile, es ist sehr schnell, einfach zu handhaben und macht Spaß. Man darf aber nicht erwarten, dass die Kunden sich von heute auf morgen umstellen.
dm-Kunden mit Payback-Karte können sich ihren Kassenbon neuerdings per E-Mail auf ihr Smartphone oder nach Hause schicken lassen, anstatt ihn am Checkout auszudrucken. Welche Überlegungen stehen hinter diesem Angebot?
Wir haben festgestellt, dass circa 30 Prozent der Kunden den Papierausdruck nach dem Einkauf nicht mitnehmen wollen. Diese Ausdrucke wegzuwerfen, verträgt sich nicht mit unserem Anspruch, nachhaltig zu handeln. Die Digitalisierung von Kassenbons trägt dazu bei, Papier einzusparen, und der Kunde kann die Bondaten ganz bequem archivieren. Derzeit nutzen etwa 5.000 dm-Kunden dieses Angebot.
Welchen Stellenwert haben Self-Services künftig in den dm-Filialen? Haben Sie beispielsweise schon einmal daran gedacht, den Kunden Selfscanning anzubieten?
Wir befassen uns schon seit Längerem mit den verschiedenen Formen des Selfscannings. Selfcheckouts scheiden wegen der räumlichen Situation in den Kassenzonen für die meisten dm-Märkte aus. In den Hauptfrequenzzeiten sind die zwei oder drei Bedienkassen in der Filiale voll ausgelastet, da macht es keinen Sinn, einen Zahlautomaten aufzustellen, zumal eine bediente Kasse wesentlich schneller funktioniert als eine Selfcheckout-Kasse. Das ist eben der Unterschied zu einem großen Verbrauchermarkt mit 20 Checkout-Kassen, der in Schwachlastzeiten nur 6 oder 7 Kassen besetzt hält und dann aus 2 oder 3 Linien Selfcheckouts macht. Wir glauben, dass unsere Kunden bei dm zumindest derzeit noch keinen Selfcheckout erwarten.
Zurzeit laufen Feldversuche im Handel, bei denen der Kunde seine Einkäufe mit seinem Smartphone scannt, bevor er sie in den Einkaufswagen ablegt.
Wir haben eine entsprechende Applikation für iPhones entwickelt, die dann mehrere Monate von Mitarbeitern getestet wurde. Das Fazit aus den Rückmeldungen lautet: Es funktioniert zwar, es macht aber keinen Spaß, weil die Anwendung umständlich ist. Mit der Smartphone-Kamera einen Artikel zu erfassen ist ein Geduldsspiel. Das geht lange nicht so einfach wie mit einem Hochleistungsscanner. Sie brauchen immer beide Hände. Eine Hand muss das Smartphone halten, die andere den Artikel. Wenn Sie den Zeitaufwand auf den gesamten Einkauf hochrechnen, dann benötigen Sie für das Scannen der Artikel deutlich mehr Zeit, als Sie am Checkout einsparen. Wenn uns die Kunden morgen sagen würden, sie möchten mit dem iPhone einkaufen, dann könnten wir das zwar bedienen. Wir sind aber nicht davon überzeugt, dass wir diese Form des Self-Service derzeit aktiv anbieten müssen.
Wie bedeutsam ist die Nutzung digitaler Medien zur Kundenkommunikation und Verkaufsunterstützung in den dm-Filialen?
Digitale Signage bringt nach unserer Erfahrung keinen erkennbaren Mehrwert. Es gibt aber digitale Anwendungen in den dm-Märkten, die wir in Zukunft forcieren werden. Zum Beispiel eine Gesund-
heits-Anwendung, die anzeigt, welche Produkte aus dem Sortiment am günstigsten einen bestimmten Wert an Vitamin C liefern. Bisher war diese Anwendung an einem Service-Punkt in der Filiale integriert. In Kürze wird dieses Service-Angebot über einen Touchscreen unmittelbar am Pharma-Regal verfügbar sein. Der Rollout läuft in diesem Jahr an. Über dasselbe Terminal werden die Kunden künftig auch Produkte unseres Partners, der Versandapotheke Zur Rose, bestellen können – zum Beispiel Medikamente, die wir in den Filialen nicht führen, da sie rezeptpflichtig sind.
Die zunehmende Verbreitung von Smartphones hat das Informations- und Kaufverhalten der Verbraucher verändert. Welche Strategie leiten Sie daraus ab?
Das Thema Multichannel ist zu bedeutsam, als dass wir es ignorieren können. Die Überlegungen führen aber nicht zwangsläufig zu dem Schluss, dass wir in einen eigenen Online-Auftritt investieren müssen. dm kooperiert mit Amazon. Wir beliefern dieses Unternehmen mit unseren Eigenmarken, und Amazon verkauft die Produkte online an die Endkunden. Für uns stellt sich die Frage, für welche Waren aus dem dm-Sortiment ein Online-Vertrieb aus Kundensicht Sinn macht. Was wir über Amazon absetzen, sind vor allem großvolumige oder schwere Artikel wie Windeln oder Toilettenpapier. Artikel, die der Kunde gerne anfassen, riechen oder ausprobieren will, wird er auch in Zukunft im dm-Markt kaufen wollen. Wir interpretieren Multichannel auch im Sinne von digitalen Services. Beispielsweise bauen wir unsere digitalen Foto-Services weiter aus. Und wir wollen dem Kunden die Möglichkeit bieten, digital mit dm zu kommunizieren.
Könnte da eine eigene App, wie sie andere Händler anbieten, nicht nützlich sein?
Ich bin nicht grundsätzlich gegen eine Smartphone-App, aber ich bin gegen eine beliebige App. Eine Smartphone App muss für eine relevant große Anzahl von Anwendern einen signifikanten Nutzen haben. Diese Anzahl muss sich an der Zahl von mehr als 30 Millionen Kunden messen lassen, die monatlich bei dm einkaufen. Eine App, die von 2.000 Kunden bejubelt wird, wäre kein Erfolg. Dafür ist der Entwicklungsaufwand zu hoch.
Welche Aufgaben der IT sind für Sie zukünftig besonders wichtig, um dem Unternehmen dm die größtmögliche Unterstützung für den Geschäftserfolg zu geben?
Eine Kernaufgabe der IT-Abteilung besteht darin, die relevanten Technologien für das Unternehmen zu erschließen und zu beherrschen. Bei der Vielzahl von Möglichkeiten, Entwicklungen und Lösungen, die kaum mehr überschaubar sind, gilt es, den Überblick zu bewahren und zielsicher herauszufiltern, was für unsere Kunden und Anwender einen dauerhaften Nutzen bringt. Diese Komplexität zu reduzieren, indem man das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt und auf beherrschbare Strukturen zurückführt, ist eine große Herausforderung. Eine IT-Abteilung, die das hinbekommt, leistet einen richtig guten Dienst für das Unternehmen.
Das Interview führte Winfried Lambertz.
Fünf Milliarden Euro Umsatz
Im Geschäftsjahr 2011/2012 erzielte dm-drogerie markt in Deutschland einen Umsatz von 5,1 Milliarden Euro, europaweit lag der Umsatz bei 6,9 Milliarden Euro. Mehr als 29.000 Menschen arbeiten in den rund 1.390 dm-Märkten in Deutschland, in den Verteilzentren und in der Karlsruher Unternehmenszentrale. Zusammen mit den Mitarbeitern im europäischen Ausland beschäftigt das Unternehmen rund 44.000 Menschen. Für das Geschäftsjahr 2012/2013 sind in Deutschland Investitionen von über 160 Mio. Euro geplant, davon fließen 20 Mio. Euro in die Informationstechnologie.