„Nur wer bereit ist, zu radikalisieren und sein Geschäftsmodell neu zu erfinden, wird als Omnichannel-Händler Erfolg haben“, gab Marcus Diekmann, Director Digital, E-Commerce und Omnichannel bei der Beter Bed Holding (u. a. Matrazen Concord) den rund 330 Teilnehmern der EHI Omnichannel Days 2017 mit auf den Weg. Während der Matrazen-Discounter mit derzeit rund 1.000 Filialen erst relativ spät den Einstieg in den Online-Handel gefunden hat, wächst die Zahl der ehemaligen „Pure Player“, die zusätzlich zu ihrem Web-Kanal stationäre Läden eröffnen, weiter rasch an. Von den 1.000 größten Online-Shops in Deutschland, die das EHI in seiner neusten Studie „Omnichannel Commerce 2017“ anaysierte, bieten 169 Anbieter ihren Kunden ein Cross- oder Omnichannel-Konzept an. Die Verbreitung kanalübergreifender Services sei aber noch ernüchternd, stellte Lars Hofacker, E-Commerce-Forschungsbereichsleiter beim EHI, in seinem Vortrag zum Auftakt der Veranstaltung fest. Nur Click & Collect sei bei fast allen Anbietern im Angebot, allerdings kann der Kunde dann zumeist nur online bezahlen (164). Click & Collect mit dem Zusatzservice, erst bei der Abholung in der Ware in der Filiale zu bezahlen, bieten immerhin 123 Shops an.
Click & Collect so convenient wie möglich
In Deutschland haben rund 50 Handelsunternehmen mit stationären Wurzeln die aufwändige Omnichannel-Integration in ein großes Filialnetz geschafft und damit den Schritt zu einem kanalübergreifenden Anbieter erfolgreich bewältigt. Zu ihnen zählen das Warenhausunternehmen Galeria Kaufhof und Mediamarkt Saturn. Die Omnichannel-Veranwortlichen beider Unternehmen schilderten auf dem EHI-Kongress ihre Erkenntnisse und Erfahrungen aus Omnichannel-Services, die sie ihren Kunden zur Verfügung stellen.
Während bei Galeria Kaufhof nur 12 Prozent aller Online getätigten Einkäufe in den Filialen abgeholt werden, beträgt diese Quote bei Europas größtem Händler für Unterhaltungselektronik mehr als 40 Prozent. Tobias Kindler von Mediamarkt Saturn begründete die hohe „Pick-up“-Quote damit, dass die Kunden den online bestellten Fernseher oder die Stereo-Anlage gerne erst sehen wollen, bevor sie die Produkte kaufen. Etwa die Hälfte der Online-Besteller bezahlt ihren Einkauf erst dann, nachdem sie die Ware im Markt begutachtet haben. Vor der Einführung dieses kundenfreundlichen Services hatten die Omnichannel-Verantwortlichen bei Mediamarkt Saturn zunächst große Bedenken, dass Kunden die bestellte Ware nicht in den Märkten abholen würden. Daher war die Online-Bezahlung bei der Bestellung zunächst Pflicht. „Wir haben aber gelernt, dass unseren Online-Kunden die Ware erst bei Abholung bezahlen wollen“, sagte Tobias Kindler. Man dürfe die Prozesskomplexität nicht auf den Kunden abwälzen und müsse die Prozesse so einfach wie möglich für die Kunden gestalten. Derzeit plane man den Abholservice zu erweitern, indem man Drive-Through-Konzepte in den Parkhäusern einrichtet.
Galeria Kaufhof verspricht sich vom Click & Collect Service in den 97 Warenhausfilialen nicht zuletzt Cross- und Upselling Effekte. Omnichannel-Kunden kämen doppelt so häufig in die Filialen und kauften doppelt so viel ein wie normale Kunden, berichtete Omnichannel-Chef Alexander Löschhorn von HBC Europe, zu der Galeria Kaufhof seit 2015 gehört. Aktuell würden die online bestellten Artikel noch an der Zentralkasse im Warenhaus abgeholt, man plane aber, die Abholpunkte in die Abteilungen zu verlegen, da die Wahrscheinlichkeit von Zusatzeinkäufen dadurch erhöht würde. Knapp ein Drittel der Kunden (32 Prozent), die den Click & Collect Service bei online bestellten Ware nutzen, würden Zusatzkäufe in der Filiale tätigen. Nur 10 Prozent der Online-Besteller würden ihren Online-Einkauf bei Abholung in der Galeria Kaufhof-Filiale bezahlen, die große Mehrheit begleicht den Einkauf online bei der Bestellung im Webshop.
Microservices lösen monolithische Strukturen ab
Über internationale Trends und Innovationen im Omnichannel sprach Moritz Zimmermann, Co-Founder von Hybris und Senior Vice President Pre-Sales von SAP Hybris. Zimmermann fokussierte hier die aktuellen Entwicklungen in den USA, nach wie vor Taktgeber der IT-Innovationen. Dass der stationäre Handel jenseits des großen Teichs stark unter Druck steht, belegte Zimmermann mit interessanten Zahlen. So sei die Anzahl der Besuche in Shopping-Centern im Zeitraum 2010 – 2013 um 50 Prozent zurückgegangen, trotz des explosionsartigen Wachstums der Malls in den letzten Jahren. Und: Im ersten Halbjahr 2017 mussten neun große Retailer Insolvenz anmelden, so viele wie im ganzen Jahr 2016.
Es gibt aber auch Gewinner im Handel der USA. Amazon zum Beispiel habe seit 2010 64 Mrd. Dollar an Umsatz aufgesattelt. Die jüngst erfolgte Übernahme von Whole Foods durch Amazon hat den Verteilungskampf weiter verschärft. „Amazon versucht so zu werden wie Walmart, bevor Walmart es schafft, so gut zu werden wie Amazon“, so die Einschätzung des SAP Hybris-Managers. Tempo und Agilität seien die Erfolgsfaktoren von Amazon und anderen Internet-Handelsriesen. Dabei werden die Wachstumszyklen immer kürzer: Startete Zalando 2010 noch mit 50 Mio. Jahresumsatz, lagen die Erlöse drei Jahre später schon bei 1,8 Mrd. Euro. Große Handelsunternehmen seien gezwungen, sich auf dieses Tempo einzustellen, doch die meisten Unternehmen seien nicht in der Lage, hier Schritt zu halten.
Maßgeblich für das hohe Wachstumstempo sei die zunehmende Modularisierung in den IT-Systemen. Amazon.com erneuert seine IT-Architektur über 51 Mio. Software-Releases pro Jahr, berichtete Zimmermann. In der Regel handele es sich um kleine Updates, die schnell geplant und umgesetzt werden können. Der Wandel von monolithischen Strukturen zu Microservices, kleinen isolierten Anwendungen, die für einzelne Funktionalitäten in einem IT-System verantwortlich sind und komponentenartig ausgebaut werden können, sei derzeit in vollem Gange. Software würde heute nicht mehr als „großes Ganzes“ gebaut, sondern in einzelnen Bestandteilen und Leistungsstufen. Da diese Microservices von vielen kleinen Teams entwickelt werden, führe diese Modularisierung zu einem organisatorischen Wandel in den Unternehmen.
Auch bei der digitalen Transformation sollten Händler mit einzelnen, kleinen Schritten voranschreiten, anstatt das „große Ganze“ auszuarbeiten. Es gehe bei der Entwicklung von Omnichannel-Services und Strategien um kleine autarke Projekte, nicht um die Erarbeitung eines perfekten Produkts, erklärt Dr. Felix Brunner, Leiter Direktion Migros Handel Digital vom Migros-Genossenschafts-Bund in seinem Vortrag über die Digitalisierungsprozesse des größten Schweizer Einzelhändlers. Er empfiehlt Händlern, den Mut zu haben, in neue Themengebiete zu investieren und sich dabei stets dem Nutzwert neuer Entwicklungen für die Kunden bewusst zu sein.
Omnichannel-Services: Weniger ist mehr
Omnichannel zu agieren ist für die Migros ein Thema von strategischer Tragweite, dem sich das Unternehmen mit unterschiedlichen Formaten, u. a. mit dem Online-Warenhaus Galaxus, einem Onlineshop für Bücher, DVDs und Games („Exlibris“), einem Online-Supermarkt („LeShop“) und einem eigenen Abhol-Service („Pickmup“) widmet. Besonders positive Erfahrung macht das Unternehmen mit dem Click & Collect-Service: Rund 30 Prozent der Onlinebestellungen bei Galaxus holen Kunden in den Filialen ab, bei Exlibris ist es jede vierte Onlinebestellung.
Die zentralen Fragestellungen vor jeder neue Entwicklung lauten bei der Migros: Welche Omnichannel-Services erwartet unser Kunde? Wer ist unsere Zielkundschaft? Mit welchen Services binden wir unsere Kunden und schaffen einen Nutzen? Brunner rät Händlern, von einer hohen Anzahl verschiedener Initiativen abzusehen. Entscheidend sei, dass Omnichannel-Services ihr Leistungsversprechen einlösen.
Die nächsten EHI-Omnichannel Days finden am 12. und 13. Juni 2018 in Köln statt.
Fotos (7): EHI/Hauser
Weitere Informationen: www.omnichannel-days.com