Für Web-Anbieter ist der Kunde ein recht bekanntes Wesen. Analyse-Tools dokumentieren seine Customer Journey durch den Webshop und werten sie bis ins Detail aus. Über Link-Nutzungen und Verweildauer in einzelnen Bereichen werden seine Interessen und Vorlieben digital ergründet. Und spätestens bei Bestellung und Bezahlung wird der Kunde auch persönlich identifizierbar.
Bei seinem stationären Business kann kaum ein Händler auf derart systematisch erhobene und ausgewertete Informationen zugreifen. Offline-Händler sind daher tendenziell im Wissensnachteil gegenüber ihren Online-Wettbewerbern. Offline liegen meist lediglich Puzzle-Stücke vom Gesamtbild der Kundschaft vor, gewonnen zum Beispiel aus Frequenzzählungen am Ladeneingang, aus Gesprächen mit den Kunden und durch persönliche Beobachtungen der Laufwege, der Haltepunkte und der Interessenslage der Kunden. Schwierig, diese Teilchen zu einem Bild mit repräsentativer, für valide Entscheidungen tauglicher Aussagekraft zusammenzufügen.
Im Fokus unserer Analysen steht das Benchmarking verschiedener Filialen.
Tim WegnerMithilfe digitaler Technik lässt sich inzwischen mehr über den stationären Shopper erfragen. Im Mittelpunkt stehen dabei moderne 3-D-Kameras. Sie können nicht nur Kunden zählen, sondern auch Geschlecht, Altersgruppe, Laufwege und Verweildauer erkennen und dokumentieren. Die herkömmlichen Techniken, die per Radar oder Infrarot nur die Kundenfrequenzen messen, haben daher bei Neuinvestitionen des Handels an Gewicht verloren. Im Einkaufszentrum Taunus Carré bei Bad Homburg zum Beispiel werden auf dem Parkplatz die Kfz-Kennzeichen mit Kameras erfasst. „Ein ideales Instrument, um festzustellen, woher die Besucher kommen – die Ergebnisse fließen direkt in den Mediamix und in unsere Werbeaktionen ein“, sagt Centermanagerin Julia Steinmetz.
Kamera erfasst Altersstrukturen
Steinmetz arbeitet mit dem Karlsruher IT-Dienstleister Vitracom zusammen. Dieser hat am Haupteingang auch eine Kamera speziell für die (Datenschutz-konforme) Alters- und Geschlechtererkennung installiert. „Die Daten geben uns ein sehr detailliertes Bild über die verschiedenen Zielgruppen – entsprechend können unsere Mieter ihre Werbeaktionen zielgerichteter planen“, erklärt Steinmetz. Die Managerin kann sich auf dieser Basis aber auch Sonderaktionen im Rahmen des Center-Marketing vorstellen, „zum Beispiel einen Senioren-Vormittag mit Kaffee und Kuchen oder Events für junge Leute.“ Speziell in den USA zeichnen Kameras auf immer mehr Handelsflächen auch die Laufwege, die Aufenthaltsschwerpunkte und die Verweildauer der Kundschaft in bestimmten Bereichen auf. Künftig wird ein Händler auch feststellen können, welcher spezielle Artikel im Regal das besondere Interesse des Kunden weckt. Fujitsu stellte dazu auf der EuroCIS 2015 den Prototyp eines „Gaze Tracking“-Systems vor. Sofern der Kunde keine Sonnenbrille trägt und sich in nicht mehr als 80 cm Entfernung aufhält, registriert die Kamera seine Augenbewegungen, gleicht dieses Bild mit dem jeweiligen Regal-Bereich ab und erkennt somit, welches Produkt ausgiebig fixiert oder ignoriert wird.
Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Gesichtserkennung. Der japanische IT-Konzern NEC hat dazu eine Lösung entwickelt, mit der u. a. Adidas experimentiert. Damit können Kunden hochdifferenzierten Zielgruppen-Mustern zugeordnet und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden – etwa zur Kaufkraft oder zu Marken-Affinitäten. Spezielle Anwendungen laufen darauf hinaus, registrierte Stammkunden zu identifizieren, um persönliche Daten, Konsumprofile und historische Einkäufe für das folgende Beratungsgespräch zur Verfügung zu stellen. Gesichtserkennung und „Gaze Tracking“ sind für den Handel noch Zukunftsmusik – auch mit dem Vorbehalt, dass solche Techniken zumindest hierzulande mit den berechtigten Interessen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes kollidieren. Aufschlussreiche, datenschutzrechtlich unbedenkliche und deutlich preiswerter zu generierende Informationen bietet dagegen die Funktechnik in Form passiver Beacons.
Smartphones liefern Bewegungsdaten
Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass heute rund die Hälfte der Kunden ein Smartphone mit eingeschaltetem Wlan beim Shoppen mit sich führt. Dies öffnet Tür und Tor für das sogenannte Wi-Fi-Sniffing. Dabei fangen Empfangsgeräte die in regelmäßigen Abständen gesendeten ID- und Positionsdaten der Smartphones auf, die dann über eine spezielle Software zu Bewegungsprofilen verdichtet werden können. Die Sensoren haben eine Reichweite von 10–15 m, je nach Abschirmungsstörungen durch Wände, Metall oder Glas. Entsprechend muss eine Handelsfläche bestückt werden, um vollständige Bewegungsmuster zu generieren.
Eine Reihe junger IT-Firmen bietet dem Handel dazu ihre Dienste an, zum Beispiel 42reports, die Webavenue Betriebs GmbH oder Minodes, alle in Berlin ansässig. 42reports hat nach eigenen Angaben rund 1.500 Messpunkte in rund 30 Unternehmen installiert, darunter bei der Deutschen Bahn, bei Back Factory und bei Baby-Markt. Aus den Messungen, kombiniert mit eigenen Daten des jeweiligen Händlers, werden spezielle Reports abgeleitet. Ein Sensor am Eingang zum Beispiel hilft dabei, die Abschöpfungsquote, also das Verhältnis zwischen Passanten und Besuchern zu ermitteln. Das System kann Loyalitätskennziffern in Form der Wiederkehr-Häufigkeit von Kunden ebenso ermitteln wie Erkenntnisse zur Attraktivität einzelner Abteilungen. „Auf Basis des Passanten-Potenzials passt der Händler seine Öffnungszeiten an. Messungen von Alt- und Neubesuchern zeigen ihm, ob er seine Marketing-Aktionen anders justieren sollte. Die Relation von Besuchern und von Bons in einer bestimmten Abteilung weist den Händler auf ungenutztes Umsatzpotenzial hin“, beschreibt Christian Wallin, Geschäftsführer von 42reports, einige der möglichen Implikationen der Reports.
Externe Auswertung der Daten
Von hohem Interesse für den Händler ist auch der Filialvergleich. „Im Fokus unserer Analysen steht immer das Benchmarking verschiedener Filialen miteinander und die Möglichkeit, Erkenntnisse und Innovationen von einzelnen Stores schnell auf weitere zu übertragen“, sagt Tim Wegner, Gründer und Geschäftsführer von Minodes. Nach seinen Angaben ist die Minodes-Lösung bei rund 50 Handelsketten im Einsatz mit Schwerpunkt in den Branchen Lebensmittel, Bekleidung, Drogerie, Elektronikhandel und Automobil.
Charme entwickelt die Smartphone-basierte Messung der Kundenströme auch durch die für den Händler erschwinglichen Systemkosten. Die je nach Verkaufsflächengröße erforderliche Anzahl an Sensoren wird üblicherweise vom Dienstleister zur Verfügung gestellt und installiert, die Messwerte werden per Internet zum Dienstleister transportiert, dort ausgewertet und zu speziellen Reports verdichtet. 42reports zum Beispiel verlangt für diese Leistungen bei einer Verkaufsfläche von 100 qm monatlich rund 100 Euro. Der Händler muss bereit sein, mit der Bereitstellung eigener Daten zum Ergebnis beizutragen. Spezielle Auswertungen aufgrund gesonderter Fragestellungen kosten extra.
Optimierung der Conversion Rate
Spezielle Fragen zum Kundenverhalten hat zum Beispiel der Modehandel. Ihn interessiert unter anderem, warum Anproben letztlich nicht zu Käufen führen. Die Phizzard GmbH mit Sitz in Berlin hat eine Lösung entwickelt, die dem Anwender eine Optimierung der Conversion Rate ermöglichen soll:
In den Umkleidekabinen der Berliner Filialen von Bodycheck und von Shoe Passion sind Displays installiert, an denen der Kunde den Artikel per EAN eingeben und angeben kann, ob das anprobierte Teil zu groß oder zu klein ist. Daraufhin werden ihm potenziell passende, im Store verfügbare Größen vorgeschlagen bzw. per Bringservice zur Verfügung gestellt. Die nötigen Artikelstammdaten wie Marke, Warengruppe oder Produktbezeichnung und die filialübergreifenden Bestandsdaten holt sich das System aus der Warenwirtschaft. Produktfotos und Produktbeschreibungen kommen aus dem Onlineshop. Die Lösung bietet nicht nur mehr Service für, sondern auch interessante Erkenntnisse über die Kunden: Wie viele Besucher hatte der Händler, wie viele gingen in die Anprobe (haben also mindestens einen interessanten Artikel gefunden)? Wie viele hatten etwas in der passenden Größe gefunden? Wie viele davon wiederum haben letztlich auch gekauft? Welche Artikel wurden anprobiert? Wofür haben sich Kunden interessiert, aber am Ende dann doch nicht gekauft? Welche Artikel bzw. Warengruppen werden gern in Kombination anprobiert (aber dann doch nicht zusammen gekauft)? Mit Messdaten aus den Kundenbewegungen, wie sie 42reports ermittelt, kann das System solche Fragen beantworten. „Bisher war dies nicht möglich, da die Händler jeweils nur das Endergebnis kannten und nicht die erfolgsentscheidenden Einflussparameter“, sagt Phizzard-Geschäftsführer Peer Hohn.
Fotos (2): Fotolia / Gina Sanders (1) und Phizzard (1)
Screenshot: Minodes
Beacon: Tracking im Store
Die Beacon-Technologie bietet vielfältige Möglichkeiten, um das Kunden- bzw. Besucherverhalten in der realen Einkaufswelt genauso zu analysieren wie es bereits seit Jahren aus der Online-Welt, zum Beispiel über Google Analytics, bekannt ist. Beacons ermöglichen Tracking (Aufzeigen der Besucheranzahl im Store und die Überführung in Heatmaps), Customer Journey Tracking (Identifikation von Touchpoints der Kunden mit einer Marke), die proaktive User-Ansprache (Ausliefern von Push-Nachrichten) und Cross-Channel-Interaktion (Push-Nachricht im Store nach vorheriger Online-Recherche des Kunden). Verschiedene Startups bieten dem Handel dazu ihre Lösungen an, u.a.: intelliAd Media (www.intelliad.de), 42reports (www.42reports.com), Webavenue Betriebs GmbH (www.stor.es) und Minodes (www.minodes.com)