„Die organisierte Einzelhandelskriminalität bezieht sich auf Personengruppen, die sich durch Diebstahl und Betrug erhebliche Mengen von Waren aneignen, um diese weiterzuverkaufen. Es handelt sich typischerweise um einen zweistufigen Prozess: Diebstahl der Ware, gefolgt von einer Monetarisierung oder Veräußerung der gestohlenen Waren. Das schließt damit zusammenhängende Finanzdelikte wie Kredit- und Gutscheinbetrug, Umtauschbetrug und Schmuggel mit ein.“ – so die Studie. Gerade in Europa arbeiten diese Banden oft grenzüberschreitend und verlassen das Land nach dem Zugriff sofort wieder, um einer Strafverfolgung zu entgehen.
Die Tyco-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass jeder Zugriff einer organisierten Klau-Bande im Durchschnitt einen Schaden von 8.506 Euro verursacht, weil gezielt große Mengen leicht wiederverkaufbarer Artikel gestohlen werden. Der Betrag spricht für sich und zeigt die Brisanz des Problems.
Organisation und Strategien
Typisch für organisierte Klau-Banden ist eine Aufgabenverteilung. Ein „Direktor“ leitet eine Aktion. Dann gibt es Personen, die für Überwachung und Gefahrenmeldung zuständig sind, also die Sache absichern. Kommt es zu Identifizierungen oder Festnahmen, sollen „Lückenbüßer“ den Schaden begrenzen. Die Hauptrollen spielen die „Booster“, das sind diejenigen, die die Ware stehlen und die „Mules“, die Lastenesel, die die Ware aus dem Geschäft bringen.
Es kann vorkommen, dass eine Vorhut vorher Ware kennzeichnet, zum Beispiel mit Centstücken oder Geschäftsbroschüren, oder Ware für den Diebstahl vorbereitet, zum Beispiel Ware in Umkleidekabinen oder Schubladen versteckt. Oder diese Personen entfernen elektronische Artikelsicherung (EAS) in den Umkleidekabinen. Während eines Zugriffs können Personen die Filialmitarbeiter ablenken, zum Beispiel durch Beantragung von Kundenkarten, durch Anrufe im Geschäft oder durch Verstecken eines Kleidungsstücks in einer bestimmten Größe und Farbe und der anschließenden Bitte an die Verkäuferin, genau nach diesem einen Teil zu suchen.
Methoden
Benutzt werden sogenannte Booster-Taschen, die mit vielen Schichten Aluminiumfolie ausgekleidet sind, um die EAS außer Kraft zu setzen. Das können auch Kartons, Handtaschen, Kinderwagen oder Laptop-Taschen sein. Es gibt präparierte Booster-Kleidung. Es gibt gut vorbereitete Banden, die Schlüssel für Vitrinen und Schubladen haben oder EAS-Etikettenöffner. Barcode-Etiketten können durch gestohlene oder kopierte Barcodes billigerer Waren ersetzt werden. Eingesetzt werden Fluchtfahrzeuge mit gestohlenen, verdeckten oder fehlenden Nummernschildern.
Monetarisierung
Neben der „klassischen“ Hehlerei nutzen organisierte Diebe heutzutage auch das Internet, um Waren oder durch Umtauschbetrug erworbene Gutscheine zu Geld zu machen. Die Tyco-Studie spricht von „Hehlerei über elektronische Medien“ in erheblichem Ausmaß. Laut EHI-Ladendiebstahl-Experte Frank Horst kommen auch im deutschen Einzelhandel sogenannte Monetarisierungen vor. Da werden von ehrlichen Kunden im Laden liegen gelassene Bons an sich genommen, entsprechende Ware aus dem Regal oder vom Ständer genommen und „umgetauscht“.
Dies lässt sich ausbauen, indem man sagt, man habe ein höherwertigeres Kleidungsstück gefunden, das man lieber hätte und bezahlt dann gerne den Differenzbetrag. Hieraus lässt sich die Empfehlung ableiten, Bons kontrolliert auszugeben. Insbesondere organisierte Banden können so gut vorbereitet sein, dass sie die Bons eines Einzelhändlers perfekt fälschen, um einen Umtausch zu fingieren. Speziell bedruckte Kassenbonrollen bieten dem Einzelhandel hier mehr Sicherheit.
Natürlich machen sich organisierte Diebe im deutschen Einzelhandel dessen Umtausch-Kulanz zunutze. Um dem Kunden entgegenzukommen, tauschen Filialisten in einer Filiale gekaufte Ware in allen anderen um. Die Tyco-Studie rät hier, zumindest dem US-Einzelhandel, zu restriktiverem Vorgehen. Auch ist der deutsche Einzelhandel so kulant und tauscht Ware ohne Bon um. Organisierte Diebe nehmen hier auch gerne Geschenkgutscheine, die sie dann im Internet gesammelt verkaufen.
Abwehrmaßnahmen
Auch die Tyco-Studie rät zu „klassischen“ Abschreckungsmaßnahmen wie dem sichtbaren Einsatz von Technologie wie EAS und Videoüberwachung und dazu, kritische Bereiche gut einsehbar zu machen. Sie weist darauf hin, wie wichtig erkennbar aufmerksames, geschultes Verkaufspersonal ist und dass Sicherheitspersonal und Detektive Sinn machen.
Als Technologieanbieter stellt Tyco interessante neue „Aufrüstungen“ der EAS vor, die speziell auf die organisierte Einzelhandelskriminalität abzielen. Dazu zählen Detektoren für Störsender, die auf die Signale reagieren, die Diebe einsetzen, um Warensicherungssysteme zu überwinden. Detektoren für Booster-Taschen erkennen mit Aluminium ausgekleidete Behältnisse. Ein Fernalarm leitet die Signale der Störgerätedetektoren und Booster-Taschen-Detektoren weiter – entweder als Tonsignal oder als stiller Alarm. Diese Signale können in die Videoüberwachung integriert und so Personenaufnahmen zugeordnet werden. Wenn die Ware RFID-gesichert ist, können darüber hinaus noch entwendete Waren und aufgezeichnete Delikte einander zugeordnet werden.
Ein vorläufig letzter Schritt ist dann die organisierte Abwehr des Einzelhandels, zum Beispiel durch Public-Private-Partnership mit den Polizeibehörden, wie sie in den Niederlanden bereits praktiziert wird (siehe verlinkter Artikel „Videobilder vernetzen“).
Wettrüsten aus Aktion und Reaktion
Rüdiger Ratte, Director Retail bei Tyco Deutschland, zum aktuellen Stand der Einzelhandelskriminalität in Deutschland.
Die Tyco-Studie ist international. Was sind aus Ihrer Sicht die besonderen Merkmale organisierter Einzelhandelskriminalität in Deutschland?
Wir beobachten eine steigende Zahl an Diebstählen durch international organisierte Banden und deren wachsende Gewaltbereitschaft. Ein Grund hierfür ist sicherlich der Abbau von Personenkontrollen innerhalb der EU. Darüber hinaus nutzen Ladendiebe die hohe Service- und Kulanzbereitschaft hierzulande aus. Eine offene Warenpräsentation bietet dabei leichtes Spiel. Zudem ist der Einfluss moderner Medien wie Internet entscheidend. Ladendiebe recherchieren im Vorfeld einer Tat im Netz gründlich über ausgewählte Geschäfte, um zum Beispiel eher in ländlichen Gegenden mit Schnellstraßenanschluss zuzuschlagen, und gleichzeitig wird ein extrem hoher Anteil an geklauten Waren in Deutschland online weiterverkauft.
Haben wir es hier mit einem „Kalten Krieg“ zu tun, in dem jede Partei immer weiter technisch „aufrüstet“?
Kalter Krieg ist natürlich eine starke Metapher, aber ein Wettrüsten aus Aktion und Reaktion ist schon zu erkennen. Immer häufiger melden betroffene Einzelhandelsunternehmen Delikte wie Erpressung, Bestechung von Verkaufspersonal oder auch das Einschleusen von Straftätern als Verkaufspersonal. Zudem gibt es gezielte Massendiebstähle durch die organisierte Kriminalität.
Wo sehen Sie insbesondere für den deutschen Einzelhandel effektive Ansatzpunkte zur Abwehr?
Einzelhändler müssen sich noch viel stärker als bisher untereinander austauschen und vernetzen, um die neuesten kriminellen Vorgehensweisen kennenzulernen und ihre Prävention daraufhin abzustimmen. Daraus folgend gilt es, das Personal über neue Vorgehensweisen und Technologien kontinuierlich zu schulen. Wenn ein Händler zum Beispiel Detektionssysteme für Störsender nicht nutzt oder den Einsatz von Klautaschen nicht kennt, dann weiß er gar nicht, auf welche Art und Weise er bestohlen wird.