„Das ist eine Hermès Kelly Dance. Die Farbe nennt sich Frida und es gab sie nur in limitierter Auflage. Mal sehen, ob sie echt ist. Wussten Sie, dass Hermès-Verpackungen orange sind, weil nach dem Zweiten Weltkrieg kaum andere Farben erhältlich waren? Die Farbe ist aus der Not geboren, aber inzwischen ein ikonisches Markenzeichen.“ Nathanaël Cambier weiß viel über Hermès und viele andere Luxusmarken. Sein Wissen ist Teil seines Jobs. Der Franzose arbeitet als Authentifizierungsexperte beim französischen Secondhand-Marketplace Vestiaire Collective. Sein Schreibtisch steht in Tourcoing, einem Vorort von Lille, nicht weit von der belgischen Grenze und rund eine Stunde von Paris entfernt.
Der Ort hat wie der Nachbarort Roubaix eine reiche Textilvergangenheit. Die Gegend war früher das Herz der französischen Textil- und Bekleidungsproduktion. Reste dieser industriellen Vergangenheit sind noch sichtbar, aber gewebt oder genäht wird hier kaum noch. „Die Entscheidung, genau hier unser neues Logistik- und Authentifizierungszentrum zu installieren, war eine strategische Entscheidung und klares Engagement für diese Region und seine Historie“, erklärt Sophie Hersan, Co-Gründerin und Fashion-Direktorin von Vestiaire Collective.
Strenge Selektion
Die 8.000 qm große Zentrale öffnete Ende 2017 seine Pforten und beschäftigt rund 180 Mitarbeiter: innen, 30 davon arbeiten in der Authentifizierung. Weltweit unterhält der französische Secondhand-Marktplatz inzwischen vier solcher Kontrollbüros: Neben Tourcoing gibt es Zentren in England, USA und Hongkong. Dazu kommen zwei „Kurations-Offices“ in Paris und Singapur, die sich ausschließlich um die digitale Verifizierung kümmern.
Insgesamt, so das Unternehmen, haben seit 2019 ganze 2,5 Millionen Waren den mehrstufigen physischen Kontrollprozess durchlaufen, 33 Millionen Produkte wurden digital direkt nach Hochladen des Verkäufers auf Echtheit geprüft. Die Quote der abgelehnten, beziehungsweise aussortierten Waren hat sich in den letzten Jahren von 8 Prozent auf derzeit 12 Prozent erhöht. „Dass dieser Anteil so stark gestiegen ist, liegt auch daran, dass wir seit 2023 die meisten Fast Fashion- Marken von der Website verbannt haben. Die normale Aussortierung erfolgt gemäß unserer Qualitätskriterien, wenn die Ware zu abgenutzt oder kaputt ist oder wir nach den hochgeladenen Bildern zu wenig Material für eine Verifizierung haben oder gar eine Fälschung vermuten.“
Hersan lässt keinen Zweifel daran, was bei dieser strengen Auswahl auf dem Spiel steht: Es geht um die Glaubwürdigkeit des Marktplatzes. „Vertrauen war bereits bei der Gründung 2009 für uns eines der absoluten Schlüsselkriterien. Unser Engagement bei der Authentifizierung entspricht den Transparenz-Bemühungen der Modehersteller.“
Über Vestiaire Collective
2009 gegründet, expandierte das Unternehmen von 2013–2017 in Europa, den USA und Asien, öffnete 2017 das Logistik- und Authentifizierungszentrum in Tourcoing und startete 2019 mit dem Direktversand: Kund:innen können im Peer-to-Peer-System ohne Umweg über das Logistikzentrum die Waren an die Käufer:innen schicken. 2021 startete das Brand Partnership- Programm mit Designermarken und Premiumhändlern wie Alexander McQueen, Mulberry, My Theresa, Luisaviaroma zum Aufbau eigener Secondhand-Plattformen. Es folgte im selben Jahr die Zertifizierung als B Corp, ein Jahr später übernahm Vestiaire Collective den amerikanischen Secondhand-Wettbewerber Tradesy. Seit 2023 verbannte das Unternehmen 30 Fast Fashion-Labels von seiner Website und plant einen Börsengang in 2025.
Fake oder nicht?
Fälschungen, bisher eher ein Problem im Designermarkt mit Neuware, breiten sich vermehrt auch im stark florierenden Secondhand- Markt aus. Viele Kund:innen wissen oft gar nicht, dass sie ein „Fake“ besitzen. Die vermeintliche Designertasche wird im guten Glauben auf die Secondhand-Plattformen hochgeladen. Dazu kommen unlautere Geschäftspraktiken innerhalb der Secondhand-Branche, wie der aktuelle Skandal um den inzwischen Pleite gegangenen deutschen Secondhand-Shop Strike von Daniel Bayen: Das Recherche-Netzwerk Correctiv hatte nachgewiesen, dass Bayen in Asien begehrte Secondhand-Markenware neu nachproduzieren ließ.
„Wenn sie einen unechten Converse-Sneaker, der im Verkauf nur 50 Euro kostet, auf der Website anbieten, ist das schlimm. Aber stellen Sie sich vor, was passiert, wenn wir eine nachgemachte Rolex, ein falsches Schmuckstück von Cartier oder eben eine Fake-Tasche von Hermès verkaufen würden? Eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, aber wir bemühen uns“, erklärt Sophie Hersan. Rund 10 Minuten braucht Cambier pro Verifizierung. Dann wandert die Handtasche in die nächste Kontrolle: die Qualitätsprüfung. Übersteht sie auch noch diesen Schritt, darf sie den Besitzer wechseln – zum Gegenwert von fast 13.000 Euro.
Ein Wettrennen gegen die Zeit
Taschen sind mit 30 Prozent das Segment mit den meisten „Fakes“ innerhalb des Secondhand-Angebotes bei Vestiaire Collective. Bei Kleidung beträgt die Quote 13 Prozent, bei Schuhen immerhin 12 Prozent. Die Zahlen entstammen alle dem „Trust-Report“, der erstmals 2022 veröffentlicht wurde, um die Bemühungen des Marktführers im Online-Secondhand-Handel publik zu machen.
Natürlich dient der „Vertrauensbericht“ auch dazu, sich von der Konkurrenz abzuheben und die eigenen Leistungen zu rühmen: Immerhin leistet sich Vestiaire Collectiveein eigenes Trainingszentrum für die Authentifizierung, die Chefin der Abteilung ist ausgebildete Juristin im Markenrecht, die Experten können fast alle ein Diplom in Kunstgeschichte, Modedesign oder einen früheren Job im Auktionshandel vorweisen. Dazu kommen enge Partnerschaften mit Luxushäusern, wie Burberry oder Chloé, um Know-how und Insider-Tipps aus erster Hand zu erhalten, und neueste Verifizierungstechniken mit Hilfe von Blockchain und künstlicher Intelligenz.
Hersan: „Die Fakes werden immer elaborierter. Es ist ein Wettrennen gegen die Zeit: Wenn die Fälscher immer besser werden, müssen wir noch schneller sein und vor ihnen neue Techniken zur Verfügung haben.“ Auch die Algorithmen zur digitalen Erstkontrolle werden regelmäßig angepasst und erneuert, um Fälschern das Leben schwer zu machen und veränderte Risiken abzudecken. Bei neuen Trendlabels oder Artikeln neuer Marken, bei denen es noch keine Erfahrungswerte gibt, gehen die Experten für die Recherche sogar in die Läden, um sich die Details der echten Waren einzuprägen.
Sophie Hersan: „Wir alle hier haben eine echte Leidenschaft für das Produkt. Meiner Meinung nach sind wir der einzige Secondhand-Marketplace, bei dem die Ware durch so viele Kontrollen und so viele Hände geht. Jedes Indiz zählt auf der Suche nach der Echtheit. Diese Expertise kommt nicht von heute auf morgen, sondern muss täglich neu erarbeitet werden.“