Key Facts
- Experten prognostizieren einen Marktanteil von E-Food im Lebensmittelhandel von 6-16 Prozent in 2030. Aktuell: unter 2 Prozent.
- Eine ideale (Lager-)Logistik ist nicht in Sicht. Das Dilemma: Wirtschaftliche Lösungen arbeiten zurzeit weder mit flexiblen noch mit schnellen Prozessen.
- Zu den größten Barrieren im E-Food-Markt gehört weiterhin die mangelnde Bereitschaft der Kunden, für die Anlieferung ein „Extra“ zu zahlen.
- E-Food-Konzepte, die auf „Ultra-Frische“ setzen, verzichten komplett auf Lager.
- Parallel zur E-Food-Entwicklung entstehen verwandte Konzepte mit neuartigen Abholservices und Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten durch Robotik-Einsatz.
„Es ist weniger eine Frage, ob der Online-Anteil in Deutschland auch im Lebensmittelhandel bis 2030 steigen wird, sondern nur, auf welches Level.“ So lautet die These von Nico Hemker, Principal der internationalen Managementberatung Oliver Wyman. Je nach Fortschritt des deutschen Marktes sei mit einem Marktanteil von 6-16 Prozent zu rechnen, so Hemker.
Dafür müssen von den E-Food-Anbietern jedoch einige Barrieren überwunden werden. Soziale Verantwortung und damit faire Bezahlung der Mitarbeiter und Umweltbewusstsein in Sachen Verpackung nehmen für die Konsumenten stark an Bedeutung zu. Weiterhin wichtige Entscheidungskriterien beim Einkauf sind die Verfügbarkeit bestimmter Anbieter sowie Qualität und Regionalität der Produkte. Als entscheidende Variablen für oder gegen einen Online-Lebensmittelkauf erweisen sich aber vor allem kundenfreundliche Lieferzeiten, Liefergebühren sowie Bestell- und Lieferprozesse. „Diese Barrieren bestehen weiterhin, aber sie werden hartnäckig bearbeitet“, beobachtet Hemker.
Experimentierfeld Lieferlogistik
Auch auf logistischer Seite gibt es unbeantwortete Fragen und Richtungsdiskussionen. „Flexible und schnelle Lösungen in der Logistik sind nicht wirtschaftlich. Wirtschaftliche Lösungen sind nicht schnell und nicht flexibel“, beschreibt Dr. Niels Linge, Senior Expert Food Retail bei Miebach Consulting (Frankfurt/Main) das Dilemma, vor dem Entscheider im E-Food-Markt stehen. Beispiel: Leistungsfähig und wirtschaftlich sind etwa Fulfillment Center mit hoher Automatisierung. Hinzu kommt, dass Automatisierung und Materialflusstechnik derzeit die schärfste Waffe sind, um die Wirtschaftlichkeit im E-Food-Markt zu verbessern. „Doch Projektlaufzeiten sind lang. Ein Bauprojekt der Logistik hat einen Horizont von mehr als 20 Jahren. Beton ist nicht agil, und ein E-Food-Lager ist kaum drittverwendbar“, formuliert Linge.
Der Experte sieht aktuell zudem keine komplett andere Technologie, die den E-Food-Logistikern neue Perspektiven bieten würde. „Langfristig wird sich für alle Anforderungen eine Lösung etablieren, und es werden sich Branchenstandards herausbilden. Bis dahin werden wir in der E-Food-Logistik eine sehr bunte Mischung aus Elementen mit ganz unterschiedlichem Planungs- und Nutzungshorizont antreffen“, so Linge perspektivisch.
Automatisierung als logische Reaktion
Mit einer Mischung aus Interesse und Skepsis beobachten derweil Logistikunternehmen wie Vanderlande Industries (Mönchengladbach) die Entwicklungen im E-Food-Markt. Bei Vanderlande, Anbieter für fördertechnische Anlagen, stellt man sich die Frage, ob E-Food-Konzepte künftig eher sogenannte Central Fulfillment Center (CFC) als große Logistiklösung für mehr als 50.000 eingelagerte Artikel und wöchentlich bis zu drei Millionen Orders benötigen werden, oder aber Micro Fulfillment Center (MFC) als kleinere, dezentrale Lösung und entsprechend kurzer Distanz zum Kunden.
Bislang hätten die Verbraucher ihre Lebensmittel im stationären Handel quasi selbst kommissioniert. Wenn der E-Food-Markt jetzt wachse, würden zusätzliche personelle Kapazitäten für Logistik-Prozesse benötigt. Jedoch könne damit aufgrund von Arbeitskräftemangel und steigenden Personalkosten ein „Risikofaktor für künftiges Wachstum“ verbunden sein. Als „logische Reaktion“ eines solchen Szenarios bezeichnete der Experte höhere Investitionen in die Automatisierung der Supply Chain des Online-Lebensmittelhandels, damit die Branche unabhängiger von knappen oder teuren Arbeitskräften wird. Diese Investitionen, so Grimm weiter, werfen jedoch die Frage auf, ob es für Fulfillment-Center, ganz gleich ob CFC oder MFC, jemals einen positiven Business Case geben wird.
Office Direkt: Verkauf aus dem Container
Als „E-Commerce-Profi im E-Food- und FMCG-Bereich im Hintergrund“ positioniert sich das Unternehmen Office Direkt Service-Center (Remagen).
Firmenchef Werner Gasper steuert als Dienstleister dabei aktuell 160 Online-Markenshops, darunter die Angebote bekannter Namen wie Haribo, Uncle Ben’s oder Emsal. 17 weitere Shops hat Gasper in einer Online-Mall (www.markenmall.com) vereint, um den Konsumenten „Shop-Hopping“ zu ermöglichen und ständig neue Markenprodukte zu präsentieren. Käufer werden von einem Online-Shop zum nächsten geleitet, neh-men dabei jedoch ihren Warenkorb mit. Bezahlt wird nur einmal in einer Gesamtsumme. Auch die gesamte Bestellung erhalten die Kunden in einer einzigen Lieferung.
Doch Gasper hat noch eine weit ungewöhnlichere Idee: Ein vollautomatisierter Robotic Store, in dem ohne Personal Lebensmittel, aber auch Bekleidung und Schuhe, Bücher, Autoteile und vieles mehr angeboten werden kann. Gaspers Vision sind Container, an deren Außenseite sich ein digitales Display zur Produktwahl befindet. Daneben ist eines der üblichen Bezahlterminals angebracht. Innerhalb des Containers läuft nach der Bestellung alles vollautomatisch.
Das Konzept wird u. a. für die Versorgung ländlicher Regionen entwickelt. Zentrale Vorteile: Einfache Aufstellung durch flexible Container, bis zu 9.000 Artikel je Container (mit Klimazonen), kein Verkaufspersonal notwendig, einfache Warenbefüllung, automatisches MHD-Processing und der Ausschluss von Ladendiebstahl. Gasper hat für sein Konzept ein sogenanntes Verfahrenspatent angemeldet. „Wir werden die Idee in 2020 mit einem Partner aus dem Handel realisieren“, so seine Ankündigung.
Vertriebskonzepte des Online-Handels
Das niederländische Start-up Picnic arbeitet im deutschen E-Food-Markt aktuell ohne Liefergebühren. Vom Verteilungszentrum in Viersen am Niederrhein wird die Ware an Hubs geliefert. Diese befinden sich bereits in 10 Städten mit Schwerpunkt Rheinland und Ruhrgebiet. Von dort aus wird die bestellte Ware mit Elektroautos zum Kunden gebracht.
Wer bis 22 Uhr bestellt, erhält am Folgetag die Ware. Der Mindestbestellwert beträgt 25 Euro. Damit setzt man auf Geschäftsbedingungen, die die Konsumenten von manchem Online-Händler aus dem Bereich Mode gewohnt sind. „Wir liefern in einem Zeitfenster bis auf 20 Minuten genau“, sagt Elisaweta Kostenko, Marketing Manager bei Picnic. Die Kunden werden per Push-Nachricht aufs Mobiltelefon informiert, sobald der Lieferwagen unterwegs ist. Diesem kann man in der App über einen Live-Radar folgen.
Zunächst startete Picnic mit einer Palette von 5.000 Produkten. Die Zahl hat sich mittlerweile verdoppelt. „Die Kunden haben einen kompletten Supermarkt in der Hosentasche“, so die Worte von Kostenko. Wichtig seien regionale Produkte, die auf Basis von Lieferverträgen mit Landwirten und Bäckern garantiert werden. Übergeordnete Idee von Picnic ist der Aufbau eines logistischen Netzes, das nicht nur dazu dienen soll, Lebensmittel in die Haushalte zu bringen. „Dank unseres Lieferservices stehen wir quasi in der Küche des Kunden. Da ist noch viel mehr drin als der Food-Verkauf“, beschreibt Kostenko die Ambitionen.
Lieferung direkt vom Produzenten
Ähnlich ist der Ansatz des 2014 in der Schweiz gegründeten Online-Anbieter Farmy. Der E-Food-Spezialist positioniert sich als Markt für „frische und authentische Lebensmittel mit transparenter Herkunft“. Das Sortiment umfasst 10.000 Produkte. 2018 wurde ein Umsatz von 7,6 Mio. CHF erzielt. Damit ist Farmy gemessen am Umsatz die Nummer drei im Schweizer Markt für E-Food.
Laut Co-Geschäftsführer und Co-Gründer Tobias Schubert greift Farmy mit dem Thema Nachhaltigkeit einen „Super-Trend“ auf. Regional und verantwortungsvoll hergestellte Nahrungsmittel „vom Produzenten nebenan“ ist die Devise. Rund 1.000 Produzenten beliefern den Online-Anbieter. „Wir sourcen direkt beim Produzenten. Es gibt kein Lager“, erklärt Schubert. Die Bauern profitieren von neuen Kunden, digitaler Präsenz und kostenlosem Marketing.
Produkte, die ausverkauft sind werden den Kunden online auch nicht mehr angezeigt. Bestellungen, die bis 24 Uhr eingehen, werden gebündelt und um 0.30 Uhr an die Erzeuger weitergeleitet. Spätestens um 10 Uhr vormittags ist die Ware im Verteilzentrum. Bis 15 Uhr erfolgt die Verpackung. Die Kunden erfahren per SMS und Push Notification, welcher Kurier sie beliefert und wann er auf 15 Minuten genau vor Ort sein wird. Das Farmy-E-Mobil kann live in der App verfolgt werden. Bei Bedarf kann der Kunde sogar den Kurier anrufen. Farmy fokussiert sich auf die Metropolregionen um Zürich und den Genfer See. „Wir arbeiten seit sechs Monaten profitabel auf Deckungsbeitragsrechnung“, erklärt der E-Food-Unternehmer. „Die Skalierbarkeit ist da.“
Roqqio: Komplexität minimieren
„Was im Handel mit Mode und Schuhen in puncto Omnichannel-Konzepte bereits Realität ist, kann technologisch auch für die Food-Branche abgebildet werden – und das oft sogar mit weniger Aufwand als vielfach gedacht“, sagt Mario Raatz vom Software-Anbieter Roqqio, Hamburg.
Die „Roqqio Commerce Solutions“ bietet Softwarelösungen und -konzepte für die Umsetzung der Omnichannel-Customer-Journey in Handel und Industrie. Mit der Enterprise SAAS Anwendung „Roqqio Commerce Cloud“ managen die Kunden nahtlos ihre diversen Vertriebskanäle wie Web-Shop oder Marktplätze und automatisieren komplexe Backend-Prozesse wie beispielsweise das Order-Management, Payment oder die Logistik.
Die Commerce Cloud homogenisiert die kanalspezifischen Daten und Prozesse und minimiert die Komplexität von Omnichannel sowie die Dauer der Implementierung. Alle Order-, Versand-, Lager- und Logistikabläufe werden in einem zentralen System gesteuert – so entsteht eine Schaltzentrale für modernen Handel, die alle relevanten E-Business-Prozesse automatisiert abbildet. „Wir können durch den modularen Einsatz unserer Lösung auch gewachsene und in die Jahre gekommene Systeme und IT-Infrastrukturen E-Commerce-fähig machen und damit digitale State-of-the-Art-Konzepte umsetzen, die es dem Handel ermöglichen, mit geringen Investitionen sowie schnellem Time-to-Market im Online-Handel mitzumischen“, so Raatz.
Verfügbarkeit verbessern
Ein weiterer Schweizer E-Food-Anbieter ist LeShop.ch, eine Tochter der Schweizer Migros. LeShop.ch hat im heimischen Markt nach eigenen Angaben einen Anteil von 55 Prozent. Man zählt 350 Mitarbeiter, 50.000 Kunden und 12.500 Produkte. „92 Prozent der Bestellungen betreffen Frischeprodukte“, so Beat Marending, Leiter Warenbeschaffung bei LeShop.ch. Rund 40 Prozent der Bestellungen werden von den Kunden via Smartphone- und Tablett-Apps getätigt. In 2018 zählte
LeShop.ch rund 750.000 Bestellungen mit 48 Millionen Einzelartikeln. Bis 24 Uhr können Bestellungen für den nächsten Tag abgegeben werden. Ab 5 Uhr morgens wird gepickt. Um 6.30 Uhr starten die Lieferfahrzeuge. LeShop.ch stützt sich seit 2017 auf die Software „Relex Living Retail Platform“ von Relex Solutions (Wiesbaden), ein Anbieter integrierter Supply Chain- und Category-Lösungen. Die Software managt Lieferanten und Promotions, außerdem liefert sie Bestellvorschläge und tägliche Absatzprognosen.
Bei den Prognosen berücksichtigt sie schwankende Volumen von Wochen- und Saisonhöhepunkten. Verbesserungen gab es bei Verfügbarkeit auch von Kampagnenprodukten. Verderb und Bestellpositionen konnten nach eigenen Angaben reduziert werden.
Vom Longtail zum Mainstream
Der E- Commerce mit Lebensmitteln kann mehr sein als ein weiterer Vertriebskanal für den Versorgungskauf. Er bietet alsdigitale Plattform auch die Möglichkeit, Impulse und Emotionen zu wecken – beispielsweise für starke Marken im Süßwarensegment. Diese Optionen zu nutzen, ist eine der Aufgaben von Fabian Masny, Leiter Sales Development & Digital bei Ferrero Deutschland (Frankfurt/Main). Das italienische Familienunternehmen erzielt mit Marken wie Nutella, Kinder-Schokolade etc. hierzulande einen Jahresumsatz von zuletzt rund 2,4 Mrd. Euro.
„Den Online-Markt müssen wir verstehen, um das Geschäft dann gemeinsam mit dem Handel zu entwickeln“, sagt Masny. Eine der Erkenntnisse: „Wenn E-Food-Kauf zur Gewohnheit wird, dann verändern sich die Warenkörbe weg vom Longtail-Fokus hin zum Mainstream.“ Der Vertriebs- und Marketing-Profi verweist dazu auf Ergebnisse aus der Marktforschung. Demnach sind bei den Online-Vollsortimentern für den regelmäßigen Online-Food-Einkauf die Anteile der Warengruppen relativ ausgeglichen. Was auffällt: Auch online werden vor allem die Top-Artikel verkauft, mit denen auch bei stationären Vollsortimentern rund 60 Prozent des Umsatzes bei Süßwaren erzielt werden.
Eine der Herausforderungen beim Verkauf von E-Food ist laut Masny: „Für Online-Impulskäufe braucht es starke visuelle Welten oder auch interaktiv und digital funktionierende Promotions.“
Qool Collect: Für den Kunden einkaufen gehen
„Wir gehen für dich einkaufen“, ist das Leitmotiv von Qool Collect, das den Konsumenten in der Region München an 5 Standorten einen besonderen Services rund um das Thema Click & Collect anbietet.
Dabei übernimmt Qool Collect das Abholen von Online-Bestellungen im stationären Handel. „Wir sammeln die Einkäufe ein. Der Kunde kann sie am gleichen Tag bei uns abholen“, erklärt Stefan Müller, Geschäftsführer Qool Collect (FreshCollect GmbH). Auch bei Einkäufen in allen anderen Online-Shops kann man Qool Collect als Lieferadresse angeben. Man nimmt Sendungen aller Paketdienstleister an.
Die Abhol-Stationen sind an 6 Tagen pro Woche von 7 bis 22 Uhr geöffnet – gekühlte Lagerung inklusive. Die Kunden werden per E-Mail oder Push-Nachricht informiert, wenn ein Paket eingetroffen ist. Die Konsumenten haben hier sogar die Möglichkeit, bestellte Kleidung anzuprobieren und ggf. gleich wieder in die Retouren geben. Die Abhol-Stationen sind keine nüchternen Logistik-Flächen, sondern bieten Platz, Licht und Ruhe, um Pakete und Einkäufe abzuholen. Man setzt auf geschulte Service-Teams, die sich kümmern und weiterhelfen.
Optimierung der Lieferkosten
Ähnlich marketinggetrieben präsentiert sich das Unternehmen Nomad Foods (Sitz: Britische Jungferninsel), das von London aus das Europageschäft der Marke Iglo steuert. Laut Francis Nicholas, Group Digital Director bei Nomad Foods, werden in vielen FMCG-Märkten mehr als 25 Prozent aller Verkäufe digital beeinflusst.
Mit Blick auf E-Food sieht der Marktkenner noch massive Optimierungspotenziale in den Bereichen Fulfillment Center, Pick & Pack-Prozesse und Auslieferung. Er verweist auch auf Konsumentenbefragungen, bei denen lediglich gut 20 Prozent der deutschen Konsumenten angaben, definitiv oder sehr wahrscheinlich in den nächsten sechs Monaten E-Food kaufen zu wollen. Knapp 80 Prozent der Befragten äußerten sich dagegen unentschieden, eher ablehnend oder schlossen den Online-Kauf von Lebensmitteln komplett aus (Quelle: Nielsen). Die Zahl zeigt laut Nicholas aber auch das Potenzial an, das in diesem Markt entwickelt werden kann.
Gefragt wurde auch nach den Gründen für die Zurückhaltung der potenziellen Kunden. Eine der größten Barrieren im E-Food-Markt sind demnach die Extrakosten für die Anlieferung. Auch Bedenken der potenziellen Kunden hinsichtlich Produktqualität der E-Produkte sowie der Lieferzeit bremsen die Marktentwicklung.