Für die EHI-Studie „Handelslogistik 2025“ haben sich 30 erfahrene Praktiker und Experten zusammengefunden, um mit der Szenario-Methode, moderiert durch Scenario Management International (ScMI) mögliche Zukünfte der Handelslogistik zu erforschen. Die Teilnehmer repräsentieren die unterschiedlichen Handelssegmente, das stationäre Geschäft genauso wie Online bzw. den Omnichannel-Handel. In drei eintägigen Workshops wurden insgesamt 22 Schlüsselfaktoren identifiziert und deren Auswirkung auf die Handelslogistik abgeschätzt. Hieraus ergaben sich am Ende neun Szenarien, die im Folgenden als „Handelsplaneten“ dargestellt werden.
Die Zukunft wird uns immer überraschen, aber sie sollte uns nicht überrumpeln.
Andreas KruseWill man sich einen Überblick über die möglichen Trends und Entwicklungen in der Handelslogistik für die nächsten zehn Jahre verschaffen, muss man sich mit den strategischen Perspektiven der Vertriebskanalentwicklung befassen und diese näher analysieren. Entscheidende Einflussgrößen für die Frage, wie sich diese Entwicklungen vollziehen können, sind sowohl der Grad der Aktivität bzw. Passivität, mit der der Handel selbst an der Gestaltung seiner neuen Rolle und Aufgaben hierzu beiträgt, als auch der Digitalisierungsgrad der Unternehmen in on- bzw. offline geprägten Strukturen. Anhand dieser Einflussgrößen (im Weiteren Gravitationsfelder genannt) gelingt auf der Metaebene eine Gesamtsicht aller neun entwickelten Szenario-Ausprägungen, im Weiteren als „virtuelle Handelsplaneten eines erdnahen Planetensystems“ beschrieben. Namen und Aussehen der Planeten verraten uns etwas darüber, was auf ihnen vor sich geht.
Um die Bandbreite dieser Ausprägungen näher zu beschreiben, soll an dieser Stelle exemplarisch auf einige der markantesten Szenarien eingegangen werden. So bildet der Planet Receivion das sogenannte Backbone-Szenario ab, in dem der Onlinehandel an seine Grenzen stößt und die Kunden überwiegend weiter im stationären Handel einkaufen. Die eigentliche Digitalisierung findet im Handel somit nicht statt, wohl aber in der vorgeschalteten Logistik. In dieser übernehmen die Digital-Player das Kommando, verarbeiten die vom Handel gelieferten Daten und steuern damit die komplexen Logistikprozesse für den Handel. Das Handelsumfeld ist dabei von einer nach außen unmerklichen Verschmelzung der digitalen und realen Welt geprägt, die für die Player keine signifikanten Marktveränderungen mit sich bringt.
Receivion
Ein weiterer Anstieg von Großflächen und Malls in Randlagen ist zu erwarten. Bemerkenswert im Bereich der Supply-Chain-Steuerung ist das starke Wirken neuer Akteure, die mithilfe von Advanced Analytics-Anwendungen die vom Handel bereitgestellten Daten verwerten und diese dem Handel anschließend wieder zur Verfügung stellen. Die Möglichkeit, dieses selbst zu können, hat der Handel verpasst und das Feld frühzeitig engagierten IT-Playern überlassen. Die Handelslogistik selbst wird durch die starke Rolle von Systemintegratoren und -orchestratoren geprägt. Auch hier hat der Handel seine starke Rolle eingebüßt und hat in vielen Fällen diese Querschnittsfunktion outgesourced.
Ähnlich sieht es auf dem Planeten „Tradon“ aus. Er verkörpert das Traditions-Szenario, in dem Kunden ebenfalls weiterhin überwiegend im Geschäft einkaufen. Nachfrage und Beschaffungsstrukturen sind in diesem Fall weiterhin regional oder sogar lokal, nicht zuletzt durch ein hohes Umweltbewusstsein und das Interesse an regionaler Produktion und Erzeugung. Entsprechend bleibt das Logistikverständnis das alte: Der Handel steuert die Supply Chain weitgehend auf dem Stand von heute. Das Handelsumfeld ist geprägt durch moderate Marktveränderungen und eine geringe Konvergenz zwischen realer und virtueller Welt. Den überwiegend stationären Verkauf bedient der Handel aus physischem Bestand. Die Handelslogistik weist nur wenige wirklich komplexe Warenströme und Logistikprozesse auf. Es könnte auch zu einem Abebben des Digitalisierungs-Hypes kommen. Allerdings hat sich der stationäre Handel bis dahin massiv verändert. In den Städten sind Flagshipstores entstanden, die zunehmend von Herstellern betrieben werden.
Daten + Fakten
EHI-Szenariostudie Handelslogistik
27 erfahrene Praktiker als Experten
- aus Handel, Logistik und Unternehmensberatung
- stationärem und Onlinehandel
- unterschiedliche Branchen (u.a. LEH, Buchhandel, Elektronik, Textil, DIY)
3 Workshops
- begleitet und moderiert durch ScMI Scenario Management International
22 Schlüsselfaktoren
- Welche Schlüsselfaktoren bestimmen die Handelslogistik?
- Wie werden sich diese Schlüsselfaktoren entwickeln?
- Welche Folgen hat das für den Handel und seine Logistik?
9 Szenarien
- Zu welchen möglichen Szenarien lassen sich diese Zukunftsprojektionen verknüpfen?
- Wie wahrscheinlich sind diese Szenarien?
- Welche Chancen, Gefahren und Handlungsoptionen ergeben sich für die Handelslogistik?
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Auf dem Planeten „Glamoroso“ bildet sich ein Showrooming-Szenario ab und bietet den Kunden ein Einkaufs- und Produkterlebnis. Objekte der Begierde werden dem Kunden nach Hause geliefert – und zwar durch klassische Logistikdienstleister. Im Handelsumfeld gibt es nur moderate Veränderungen, das Showrooming wird jedoch durch die fortschreitende Urbanisierung begünstigt. Für die Filiallogistik bedeutet dies eine drastische Verringerung der Bestände. Die Kundenbelieferung erfolgt durch Online-Distributoren. Dieses führt zu einer höheren Komplexität in der Handelslogistik und einer erhöhten Retourenlogistik.
Schizophrenia
Eine andere Entwicklungsmöglichkeit wird durch ein Parallel-Szenario auf dem Planeten „Schizophrenia“ beschrieben. Hier wächst der Onlinehandel weiter, während der stationäre Handel versucht, seine Position abzusichern, indem er auf den Online-Zug aufspringt oder neue Services wie Click & Collect anbietet. Zugleich drängen aber auch Hersteller und Anbieter aus der Logistikbranche in den Handel hinein. Dabei hat die Handelslogistik ein breites Portfolio an Dienstleistungen vorzuhalten und schwankt zwischen Innovationszwang und Beharrungsvermögen. Das Handelsumfeld ist vielfältig und unübersichtlich. Durch die Parallelität von stationärer und virtueller Handelswelt kommt es zu einer nur geringen Integration. Im Bereich des Supply-Chain-Managements platzieren sich auf der Last Mile neue Player zwischen Handel und Endkunden. Die Handelslogistik selbst ist geprägt durch höhere Komplexität und zunehmende Rückwärtslogistik.
Ähnliches versuchen die Händler auf dem Planeten „Explora“. Sie betreiben hier das Vorwärts-Integrations-Szenario. Hier kommt es zu einer stärkeren Verschmelzung zwischen digitaler und realer Welt, was bedeutet, dass der Handel seine On- und Offline-Services erfolgreich integriert hat und es zu einer Dezentralisierung in der Logistik mit mehr Auslieferungspunkten und größerer Nähe zum Kunden kommt. Das Handelsumfeld wird gekennzeichnet durch die zunehmende Individualisierung, und es entstehen kleinere Verkaufsflächen, näher am Kunden. Das Supply-Chain-Management fokussiert stärker auf den Endkunden. Hier kommt es auch zum direkten Wettbewerb mit Hersteller-Versendern und deren Dropshipment-Strategien. Insgesamt erhöht sich die Komplexität in der Handelslogistik durch Retouren und Wertstoffkreisläufe. Es kommt zu einer starken Automatisierung der Logistikprozesse – diese werden häufig durch Systemintegratoren betrieben.
Kortex
Es geht aber auch anders! Im handelsgesteuerten Szenario „Kortex“ gelingt es dem stationär geprägten Handel, durch Nutzung von Advanced Analytics seine Pole-Position im Kundenkontakt zu behaupten. Er weiß, was seine Kunden zu welcher Zeit und an welchem Ort von ihm wollen und schafft eine integrierte Warenlogistik, die diese Bedürfnisse bedient. Am Ende besetzt der Handel eine vollintegrierte Wertschöpfungskette. Auch hier ist das Umfeld geprägt von zunehmender Individualisierung, Urbanisierung und Digitalisierung. Der eingeschlagene Weg zum Omnichannel-Handel wird erfolgreich fortgeführt. Die Verkaufsflächen verkleinern sich, neue, mit dem Online-Geschäft verknüpfte Services und Funktionen reüssieren. Neben der selbst gesteuerten Supply Chain betreibt der Handel weiterhin eine eigene Warenlogistik und hat stark in die Automatisierung der Logistikprozesse investiert.
EHI-Studie: Die Zukunft der Handelslogistik 2025
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Es kann aber auch ganz bitter kommen: Die Planeten „Manufaktis“, „Surface“ und „Deserto“ liegen im Gravitationsfeld eng beieinander und verheißen nichts Gutes für den stationären Handel. Die Szenario-Interpretation erstreckt sich vom „Handel-als-Hersteller-Szenario“ über das „ohnmächtiger-Handel-Szenario“ bis hin zum „Ende-des-Handels-Szenario“. In allen drei Szenarien kommt der Handel nicht mehr mit, zieht sich aus der Verkaufsfläche zurück bzw. die verbleibenden Flächen – meist in innerstädtischen Lagen – werden zum reinen Verkaufsarm. Die (Handels-)Logistik ist global und wird durch hochkomplexe Warenströme und Logistikprozesse und durch eine zunehmende Bedeutung von Value Added Services gekennzeichnet. Dem Handel ist die Steuerung der Supply Chain entglitten – diese haben Online-Spezialisten und die Industrie dem Handel entrissen und kümmern sich auch um den Kundenkontakt. Die operative Logistik ist geprägt von komplexen Sendungsstrukturen, Retourenmanagement und hohem Automatisierungsgrad. Logistikanbieter stechen den Handel aus. Im Extremfall des Planeten „Deserto“ verschwindet der stationäre Handel vielerorts. Neue Akteure schaffen neue Wertschöpfungssysteme und schaffen eigene Logistiklösungen. Die Logistikbranche versucht, über Systemintegration und -orchestrierung ihren Platz zu sichern. Gewinner im Supply Chain Management sind die Pure Player des Onlinehandels. Sie dominieren die Wertschöpfungskette.
Und die Quintessenz? Natürlich bleibt die Unsicherheit über die Zukunft bestehen. Jedoch können die aufgezeigten Szenarien Orientierung geben und manifestieren Eckpunkte denkbarer Lösungen, um auf dieser Grundlage bessere Entscheidungen treffen zu können – hin zu einem zukunftsfähigen Handelsunternehmen.
Grafik: Pro In Space GmbH
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