Tony Cachafeiro ist Franchisenehmer der französischen Supermarktkette E. Leclerc in Andorra. Ihn bewegte die Frage, was er tun könnte, damit blinde Menschen ihren Einkauf erledigen können, ohne jedes Mal Verwandte oder Bekannte um Hilfe bitten zu müssen. Daher fragte er seine Tochter Melanie, unter deren Leitung der neue Supermarkt entstehen sollte, um ihre Meinung. „Ich fing an zu recherchieren und mir wurde schnell klar, dass es noch mehr Behinderungen und körperliche Einschränkungen gibt, die das Einkaufen für Betroffene zu einer großen Herausforderung machen“, kommentiert Melanie Cachafeiro. „So entstand dieses großartige Projekt, auf das alle Beteiligten sehr stolz sind.“
Nachhaltigkeitsgedanke spielt mit
Bei der Planung und Umsetzung des 1.700 qm großen E. Leclerc Express in Sant Julià de Lòria, für die die Firma Wanzl verantwortlich zeichnet, lag der Fokus daher auf inklusivem Laden-Design, aber auch auf Nachhaltigkeit. „Es ging uns vor allem darum, Menschen mit Seh-, Hör- oder psychischen Behinderungen, Bewegungseinschränkungen oder einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ein autonomes und zufriedenstellendes Einkaufserlebnis zu ermöglichen, das auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnitten ist“, erklärt Cachafeiro. „Uns war aber auch klar, dass wir Hilfe brauchen würden, um unser Vorhaben erfolgreich in die Praxis umzusetzen.“
Deshalb holte sich Cachafeiro für die Umsetzung das Consulting-Unternehmen Accessible Universal Travel ins Boot, das E. Leclerc bei der innenarchitektonischen Gestaltung der Verkaufsfläche sowie Weg- bzw. Kategoriefindung und Preisauszeichnung beraten hat.
Robby hilft
Für Menschen mit ASS ist ein Extraraum vorhanden als Rückzugsort im Falle von Stress- und Krisensituationen. Außerdem stehen Geräte zur Unterdrückung von Umgebungsgeräuschen bereit, die auch von Personen mit Hörbehinderung genutzt werden können. Die Betroffenen können auf Wunsch einen Shuttleservice für den Transport von zu Hause zum Supermarkt und wieder zurück in Anspruch nehmen. Der Einkauf wird kostenlos nach Hause geliefert. Darüber hinaus wird Kund:innen mit körperlichen Einschränkungen bei Bedarf ein Einkaufsassistent zur Seite gestellt, der sie beim Shoppen durch den Supermarkt begleitet.
In dem neuen Supermarkt geht der Kundschaft auch „Robby“ zur Hand, ein Roboter, der Kund:innen auf der Fläche beim Suchen von Produkten hilft und sie bis zum Regal führt, wo das entsprechende Etikett dann aufleuchtet. „Ein Roboter eignet sich besser zur Assistenz von Personen mit Autismus, denen der direkte Kontakt mit Menschen häufig schwerfällt“, erklärt Melanie Cachafeiro.
Für Nutzer:innen von Rollstühlen und Rollatoren gibt es spezielle Einkaufswagen, die direkt an die Hilfsmittel angeschlossen werden, damit sie ihre Hände frei haben. Barrierefreie Zugänge und Flächen sowie breite Gänge ermöglichen eine autonome Fortbewegung. „Wir wollen ein Zeichen setzen und andere Supermärkte zum Nachahmen ermutigen. Alle Elemente und Serviceleistungen werden sehr gut angenommen. Etliche Kunden kommen sogar aus dem weiteren Umkreis hierher. Das Feedback ist durchweg positiv“, erklärt Melanie Cachafeiro.
Behutsam herangehen
Esther Fernández, selbst blind und Vizepräsidentin des Verbands der Seh- und Hörbehinderten in Andorra, der bei dem Projekt beratend zur Seite stand, zeigt sich erfreut über die Initiative von E. Leclerc: „Ich konnte es anfangs gar nicht glauben, dass ein Supermarkt von sich aus so etwas in die Tat umsetzen würde. Ich selbst bin immer auf Hilfe beim Einkauf angewiesen, aber diese jetzt direkt im Supermarkt zu bekommen, macht es mir viel leichter und ich bin dadurch viel unabhängiger als anderswo.“
Für den Umgang mit dieser Zielgruppe werden die Mitarbeitenden des Supermarktes speziell geschult, damit Berührungsängste vermieden werden. So ist es beispielsweise nicht empfehlenswert, blinde Personen beim ersten Ansprechen zu berühren, denn das könnte sie irritieren und aus dem Konzept bringen. Vielmehr gilt es, verbal Hilfe anzubieten und zu leisten, wenn dies ausdrücklich erwünscht wird.
Still & leise
Mit dem permanent inklusiven Einkaufserlebnis geht Leclerc einen Schritt weiter als die Initiative „Stille Stunde“, auch „Silent Shopping“ genannt. Diese hatte 2019 in Neuseeland ihren Anfang auf Anregung der Mutter eines autistischen Kindes genommen, für das der Einkauf im Supermarkt eine starke sensorische Belastung darstellte. Seitdem macht das Beispiel auch in Europa Schule und wurde seit 2022 hierzulande in verschiedenen Rewe- und Edeka-Märkten getestet und vielerorts auch eingeführt.
Ein mögliches Symptom bei Autismus ist eine Überempfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen wie Licht, Gerüche, Geräusche oder Berührungen. Vielen Menschen mit Autismus fällt es deshalb schwer, störende Geräusche im Supermarkt auszublenden. Das Projekt ermöglicht es der Kundschaft, an bestimmten Tagen und Uhrzeiten bei reduzierter Lautstärke, gedimmtem Licht und in einer ruhigen Atmosphäre weitgehend ohne Ablenkung einzukaufen.