„Wir sind Menschen, keine Maschinen“, mahnt Ralf Nähring, Geschäftsführer des Kreativbüros und Thinktanks Dreiform, „und das sollte sich vor allen Dingen im Erscheinungsbild der digitalen Ebene widerspiegeln, das heißt in sinnlicher Erfahrung statt im Monitoring von Daten.“ Nähring prägte das Kürzel „HUX“ für „Hybrid User Experience“, also hybride Lösungen, die den realen und den digitalen Raum verbinden.
Zwar experimentierten bereits vor rd. zehn Jahren viele Store-Designer mit Magic Mirror, Selfie-Box und multimedialer Powerwall für ein hybrides Erlebnis am POS, „Gamification“ wurde zum Schlagwort, dann aber konzentrierte sich die Entwicklung digitaler Technologien mit voller Kraft auf den funktionalen Ausbau der Prozesse: Elektronische Preisauszeichnung, Self-Checkout, Instore-Tracking, mobile Apps etc. versprachen u. a. schnellere Abläufe, bessere Verzahnung, Kundentransparenz, Umsatzsteigerung und Personalunterstützung, also direkten Mehrwert.
Heute kann vieles davon als ausgereifte Standardtechnologie störungsfrei und zu überschaubaren Kosten zum Einsatz gebracht werden, bestätigt Bernd Albl, Managing Director Digital Retail bei Umdasch: „Die Roll-outs der digitalen Anwendungen sind Indikatoren dafür, dass sie funktionieren.“
Daher sieht er den Zeitpunkt als gekommen an, „Digital Retail“ eine größere Rolle in der emotionalen Inszenierung des POS einzuräumen: „Wir wissen, dass sich die stationären Formate fundamental ändern müssen und ändern werden, erste SB-Checkout-Stores oder Showroom-Konzepte zeigen bereits die Richtung an. Dabei dürfen wir die emotionale Seite nicht außer Acht lassen. Die Corona-Zeit hat uns gezeigt, wie essenziell Markenerlebnis und Genuss-Inszenierung am POS sind, wenn sich der unmittelbare Produkt-Kauf ins Netz verlagert. Die digitale Technik dafür steht bereit.“
Key Facts
- Digitale Technologien haben Serienreife erlangt
- Der Einsatz digitaler Tools für emotionale Inszenierungen ist ausbaubar
- Content wird entscheidendes Element im Store-Design
- Digitale Netzwerkplanung muss mit Ladenbau zusammengeführt werden
Wenige Vorreiter
Aktuell finden sich jedoch nur vereinzelte Paradebeispiele, die die nahtlose digital-physische Inszenierung am POS meisterlich beherrschen, darunter etwa die Marken Gucci, Moncler oder Nike, meint Peter Gross von Designplus: „Nike zählt hier zu den Vorreitern. Im Flagship-Store in Paris bietet die Marke den Kund:innen auf mehreren Stockwerken einen Playground, der in bestimmten Abständen durch den Einsatz von digitalen Tools neu bespielt werden kann und den Look des Stores komplett verändert.“ Mehrheitlich beschränkt man sich allerdings nach wie vor darauf, Läden nachträglich mit ein paar Info-Screens oder LED-Walls auszustaffieren, die dann nicht selten ihr Dasein als Lückenfüller oder Fremdkörper fristen.
Dabei geht da so viel mehr, meint auch Jens Fischer, Creative Director von Kultobjekt: „Die drängendste Aufgabe für Innenstädte, Shopping-Center und Store-Designer ist, den Einzelhandel auf der Fläche so zu reformieren, dass er die Menschen unserer digitalen Gesellschaft begeistert. Dafür steht uns der digitale Werkzeugkasten mit nahezu universellen Möglichkeiten zur Verfügung. Warum nutzen wir ihn nicht?“
Mit der Digital-Agentur Von 7 ging Fischer nun voraus und konzipierte einen Store mit einer IT-Infrastruktur vom Allerfeinsten: mit digitalem Soundsystem, raumhohen LED-Walls und Monitoren, 360°-Projektionen, Livestream-Studio inklusive professionellem Kamerasystem und ausfahrbarer Greenwall sowie einem bühnenreifen High-End-Lighting-System, alles vollvernetzt.
Kreative Inszenierung
Hier kann quasi per Knopfdruck eine physisch-digital verschmolzene Inszenierung kreiert werden, die sich jederzeit verwandeln lässt. Alles hier ist aus der Agenturzentrale in Dresden heraus komplett remote steuer-und bespielbar. Die Ladenfläche kann als klassischer Marken-Store genutzt und dank der hochflexiblen Ladenbau-Module auch jederzeit zum Event-Raum oder einem anderen hybriden Mischformat umgebaut werden.
Livestreams aus dem Store, Video-Shopping-Events, Insta-Storys u. ä. können aufwandsarm im Store produziert und von dort direkt in alle Social-Media-und Marken-Kanäle gespeist werden – ein Tribut an das Leben mit dem Smartphone in der Tasche, für das der stationäre Retail adäquate Angebote entwickeln muss. Marken, Veranstalter und Unternehmen buchen die Fläche.
Umdenken auf versch
Der erste „Event-PopUp Store“ eröffnete vor Weihnachten im Westpark Shopping-Center in Ingolstadt – monatsweise. „Dieses Retail-Theatre-Konzept ist als Einladung an Retailer zu verstehen, zeitgemäße stationäre Events ohne großes Investment zu realisieren. Und der Kunde bekommt immer wieder neue aufregende Produkt-und Themenwelten geboten“, so Jens Fischer. Während eine physische Store-Inszenierung früher eine Investition in Spanplatten, Lack und Tapeten war, die fünf bis zehn Jahre halten musste, so definiert sie sich in Zukunft viel stärker über den digitalen Content. Das verlangt ein Umdenken auf mehreren Ebenen.
„Marken stehen vor der Herausforderung, dauerhaft neuen und relevanten Content zu liefern. Und das kostet natürlich Geld und Zeit für eine Experience, die für die Marken nicht bezogen auf den Umsatz messbar ist. Es ist also eine Frage der Budgetverteilung, -verfügbarkeit und auch der Priorisierung“, meint Peter Gross.
Visionsreise: Digital personalisierte Customer Journey
„Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen Bike-Store. Vor einer 2 x 2 Meter hochauflösenden LED-Wand steht Ihr Traumfahrrad. Statt eines Helms hängt eine VR-Brille über dem Lenker. Sie steigen auf das Bike, setzen die VR-Brille auf. Während Sie durch die wunderschöne Landschaft fahren, erscheinen vor Ihnen Informationen über das Fahrrad. Sie schalten einen Gang höher und befinden sich sofort in einer komplett neuen Szenerie, die auch die anderen Besucher:innen verfolgen können.
Nach ein paar Minuten kommen Sie zu einer Werkstatt und werden gebeten, abzusteigen. Es erscheinen drei Knöpfe, über die Farbe, Aufdruck und andere Eigenschaften individuell gestaltet werden können. Durch virtuelles Anklicken jedes Fahrradteils können Informationen abgerufen und Teile ausgetauscht oder angepasst werden. Ihnen gefällt das Bike? Durch das Bestätigen landet das Rad im Warenkorb, wo Sie es später auf dem Handy nochmal bearbeiten und direkt bestellen können. Zusätzlich erhalten Sie per Mail Fotos, die Sie beim Fahrradfahren durch die verschiedenen Landschaften zeigen.“
Peter Gross, Designplus
Dramaturgisches Drehbuch
Retail muss heute wie ein Drehbuch aufgebaut werden, so Bernd Albl, „mit einer Dramaturgie in unterschiedlichen Akten, die das Einkaufserlebnis wie ein Bühnenstück in Szene setzt. Die digitale Technologie und der Content dienen der Inszenierung, die Mitarbeiter sind nicht nur Komparsen, sondern wie die Kunden in der Hauptrolle bei der Inszenierung der Shop-Fläche. Die technischen Prozesse und die emotionale Inszenierung lassen sich dabei nicht mehr trennen, sondern müssen zusammengedacht werden.“
Daraus folgt auch ein Umdenken in der Planungs-und Entwicklungsphase, unterstreicht Albl: „Um den digitalen Aspekt in physischen Store-Konzepten optimal zu nutzen, sollte sich der Ladenbau mit der digitalen Expertise bereits bei der Entwurfsplanung gemeinsam an den Tisch setzen, anstatt die digitale Planung nachträglich auf ein fertiges Ladenbaukonzept übertragen zu wollen. Denn es sind die vermeintlichen Kleinigkeiten, die zu Beginn die Weichen stellen – wie eine vernünftige Elektro-und Verkabelungsplanung und die passenden Stromanschlüsse für Monitore, Sensoren, Kameras, Audio und Video an der richtigen Stelle. Die digitalen Touchpoints unter Prüfung der Statik und Berücksichtigung der Einbaurichtlinien mitzuplanen, ist anspruchsvoll.“