Das Sichten von Lebensläufen kostet viel Zeit. Zeit, die Hiring- Teams oft fehlt, um passende Matches schnell zu identifizieren und anzusprechen, so wie es Jobkandidat:innen und Fachabteilungen von ihnen erwarten, wissen die Gründer des Schweizer Start-ups Kanbii. Mit KI und einem innovativen Vermittlungsansatz wollen die Recruiting-Profis die Herausforderung lösen. Bei ihrer neuen Job-Matching- App stehen nicht die Lebensläufe, sondern die konkreten Fähigkeiten der Kandidat:innen im Mittelpunkt.
Unternehmen können auf Kanbii aus einer Liste vordefinierter Skills wählen und mit wenigen Klicks für jede Position ein kurzes, präzises Anforderungsprofil erstellen. Genauso einfach können Jobsuchende auf der Plattform ihre Fähigkeiten hinterlegen – den Rest erledigt die KI. Ähnlich wie bei einer Dating-App schlägt der Algorithmus beiden Seiten automatisch passende Matches vor. Unternehmen und Jobsuchende haben die Wahl, ob sie die Kontaktvorschläge der KI annehmen, speichern oder verwerfen. Bei gegenseitigem Interesse können Unternehmen weitere Informationen zu ihren Favorit:innen freischalten und direkt mit ihnen in Kontakt treten. „Wir bewegen uns in einem Kandidatenmarkt“, sagt Carlos Müller. Bereits im Bewerbungsprozess sollte deutlich werden, dass man effizient arbeite und die Zeit der Bewerbenden respektiere.
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Personalverantwortlichen in Europa (64 %) glauben, dass KI und Automatisierung ihnen dabei helfen können, Zeit für strategische Aufgaben zu gewinnen.
(Quelle: Personio)
Schnelle Reaktion erwartet
Eine aktuelle Umfrage der Jobbörse Xing bestätigt seine Einschätzung. Schnelligkeit und Transparenz sind danach wichtige Erfolgskriterien im Recruiting. Fast jeder zweite Befragte erwartet nach maximal zwei Wochen eine Reaktion, 35 Prozent sogar innerhalb einer Woche. Und mehr als die Hälfte der Befragten hält für den kompletten Bewerbungsprozess eine Spanne von maximal vier Wochen für akzeptabel. Die Realität sieht oft anders aus.
Fehlende Rückmeldungen und lange Wartezeiten sind laut Xing Arbeitsmarktreport neben intransparenten Gehaltsangaben, umständlichen Bewerbungsverfahren und unklaren Stellenbeschreibungen häufig geäußerte Kritikpunkte von Jobkandidat:innen. Zugleich steigt angesichts steigender Vakanzen und bürokratischer Vorgaben der Druck auf HR-Teams auch unternehmensseitig stetig an; 75 Prozent der befragten Recruiter:innen berichten von steigendem Stress, fast zwei Drittel klagen zudem über hohe emotionale Belastung.
Bevor eine umfassende Anwendung von KI möglich ist, müssen zuerst die Grundlagen durch Automatisierung geschaffen werden – weg von Stift und Papier, hin zu einer digitalisierten HR.
Hanno RennerKandidat:innen sind auch Kund:innen
Die rasante Entwicklung der neuen Generation sprachfähiger und generativer KI-Modelle verändert die Art und Weise, wie Menschen Software nutzen. Gerade im Recruiting, wo überwiegend mit Sprache gearbeitet wird, eröffnen sich neue Chancen. Bei der Entscheidung für ein digitales Personal- oder Bewerbermanagementsystem sollte das Thema KI deshalb mit auf der Checkliste stehen. Viele Softwareanbieter integrieren bereits smarte Assistenten in ihre Systeme, die dem HR-Team zu besseren Ergebnissen verhelfen sollen.
Das US-Unternehmen Smart Recruiters bietet beispielsweise KI-Unterstützung für eine diskriminierungsfreiere Bewerberauswahl, für die optimierte Ansprache von internen und externen Jobkandidat:innen oder für die Suche nach alternativen Einsatzmöglichkeiten nach einer Absage. Gerade im Handel spiele ein als effizient und wertschätzend erlebter Bewerbungsprozess eine wichtige Rolle, denn viele Bewerber:innen seien zugleich Kund:innen, heißt es beispielsweise bei der Einrichtungskette Jysk. Das Unternehmen nutzt Smart Recruiters um Personalverantwortliche in rund 3.300 europäischen Filialen beim dezentralen Einstellungsprozess in mehreren Sprachen zu unterstützen und bei tausenden von Jobkandidat:innen pro Jahr einen positiven Eindruck zu hinterlassen.
35 % …
aller Bewerber:innen erwarten von Unternehmen eine Rückmeldung binnen einer Woche. 46 Prozent halten maximal zwei Wochen für angemessen.
(Quelle: Xing Arbeitsmarktreport 2024)
Auch Job-Portale wie Indeed, Stepstone oder Xing unterstützen ihre Kund:innen mit Services wie KI-generierten Stellenanzeigen oder Interviewfragen, KI-optimierter Mediaplanung oder der KI-basierten Vorauswahl. Den Gründern von Kanbii ist das allerdings noch zu wenig: Die Geschäftsmodelle der großen Jobbörsen zielten vor allem auf Masse, sagt Carlos Müller. Mit seinem Skill-basierten Ansatz will das Schweizer Start-up dagegen erreichen, dass Recruiting- Teams sich das zeitraubende Aussortieren ungeeigneter und oft wahllos verschickter Bewerbungen sparen können. Stattdessen soll ihre App gezielt passende Kandidat:innen mit den gesuchten Fähigkeiten vorschlagen.
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aller Handelsunternehmen halten den Einsatz von generativer KI im Personalwesen für sinnvoll.
(Quelle: EHI-Whitepaper „Generative KI im Einzelhandel“ 2024)
Vielversprechender Ansatz
Für perfekte Matching- Ergebnisse ist Kanbii neun Monate nach dem Launch mit rund 4.000 registrierten Jobkandidat:innen und etwa 100 Jobofferten pro Monat zwar noch klein. Doch bei der „Höhle der Löwen“ sicherte sich das Team im Schweizer Fernsehen gerade einen Deal. „Ich glaube, No-CV ist die Zukunft“, so Investorin Bettina Hein.
Auch Arbeitsmarktforscher Fabian Stephany hält den Ansatz für vielversprechend. Bei Jobofferten rund um die digitale oder grüne Transformation werde immer öfter nach konkreten Fähigkeiten statt nach bestimmten Abschlüssen oder Stationen im Lebenslauf gefragt, beobachtet Stephany, der an der Universität Oxford und am Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin zu den Auswirkungen von KI auf Jobs und Gehälter forscht. Mittelfristig werde sich Skill-Based-Hiring durchsetzen, denn formale Bildungswege und klassische Karrierepfade hinken dem schnellen Wandel der Arbeitswelt zunehmend hinterher, erwartet der Ökonom.
Ein tieferes Verständnis der erfolgskritischen Skills und Persönlichkeitsmerkmale steigere den Besetzungserfolg und verbreitere den Kandidatenpool. Weltweit arbeiten Unternehmen wie Kanbii daran, mittels KI die Formel für das perfekte Job-Matching zu entschlüsseln. Noch fehlt es vielfach an der kritischen Masse, um die lernenden Algorithmen zuverlässig zu trainieren. Dennoch sollten sich Unternehmen frühzeitig mit den neuen, oft per Plug-and-Play verfügbaren Optionen auseinandersetzten, rät André Kock, Experte für Arbeitsrecht und KI bei KPMG Law in Hamburg.
Nicht nur bei der Talentakquise, sondern beispielsweise auch beim Planen von passgenauen Weiterbildungen, beim internationalen Onboarding, bei Jahresgesprächen und Zielvereinbarungen oder rund um das Thema Gehaltstransparenz und faire, diskriminierungsfreie Vergütungsstrukturen könnten KI-Tools die Personalabteilung entlasten und Bauchgefühl durch valide Daten ersetzen. Allerdings müssten Unternehmen neben der Technologie stets auch juristische Aspekte im Blick haben. „Mit der Zahl der Anwendungen steigt die Sensibilisierung für Themen wie Datenschutz, Gleichstellung oder Arbeitnehmerrechte“, sagt Kock. „Unternehmen sollten für den Umgang mit KI deshalb klare und transparente Regeln aufstellen.“