„Gebt uns Retailern ein bisschen Zeit.“ Jessica Koch spürt den wachsenden Druck am Werbemarkt. Die Vizepräsidentin New Media bei Douglas bekommt jeden Tag Anfragen von Marken und Agenturen, ob man die Daten von Douglas nicht nutzen könnte, um damit Kampagnen im „offenen Internet“ zu fahren. Man könnte, keine Frage, man will auch, denn große internationale Retailer wie Walmart machen vor, was es für die Stabilität eines Geschäftsmodells bedeuten kann, wenn man nicht nur am Produktabsatz verdient. Aber das Wie ist die entscheidende Frage. „Das erste Wort in Retail Media heißt Retail und darauf liegt unser Fokus“, sagte Koch im Rahmen der Datenkonferenz „D3Con“.
Tendenz stark steigend
Die Datenschutzbemühungen der EU, kombiniert mit dem Abschalten der Third-Party-Cookies, sorgen für Datenknappheit. Und das steigert den Wert des Angebots der Händler, die Daten haben. Um 60 Prozent sollen sich die Umsätze in Retail Media daher innerhalb der nächsten fünf Jahre steigern. Das ist der optimistische Ausblick der Mediaagentur Group M. Insgesamt 160 Mrd. US-Dollar würden 2027 in dem Bereich erwirtschaftet. Das wären zwischen 15 und 20 Prozent des Werbemarkts. Für Deutschland erwartet Torsten Ahlers, Managing Director Marketing Services von Media Markt Saturn, ein Marktvolumen von drei bis vier Mrd. Euro.
„Wir werden nächstes Jahr TV einholen“, sagt er. Die spannende Frage lautet: Welchen Wert hat Werbung im Umfeld eines Händlers, wenn die Marke nicht dort verkauft wird? Natürlich gibt es Werbungtreibende, deren Produkte praktisch für jedermann und überall relevant sind. Das gilt zum Beispiel für Warner Bros. Discovery. Die Produktionsgesellschaft von Barbie hat jüngst einen Deal mit Samsung Ads geschlossen, nach dem Filmtrailer über die Samsung-Fernseher laufen, welche im Handel stehen. Aber auch das will überlegt sein, denn wer vermarktet den Samsung-Bildschirm? Samsung Ads oder Media Markt Saturn?
Instore Media
Als Instore Media bezeichnet man Marketingmaßnahmen, die direkt am Point of Sale im Einzelhandel umgesetzt werden, wie Flyer oder interaktive Displays. Instore Media soll Kund:innen gezielt auf günstige Angebote aufmerksam machen und die Verweildauer im Geschäft erhöhen. Im Idealfall passen die Maßnahmen sowohl zum Geschäft als auch zur Zielgruppe. Ein Sportgeschäft etwa könnte bekannte Sportler:innen bei der Nutzung bestimmter Produkte zeigen.
Intersport als traditioneller Einzelhändler mit einem Umsatz von 2,65 Mrd. Euro im Jahr 2020/2021 nutzt zum Beispiel Instore TV und Experimental Marketing, um Einkaufserlebnisse zu gestalten und die Kundenbindung zu erhöhen.
Heimat im Portfolio
Generalisten wie Unilever wären ebenfalls Kandidaten, die nicht nur im LEH präsent sein möchten, sondern die beispielsweise Snacks auch bei Obi bewerben können. Christian Leihner, Head of eCommerce Performance bei Unilever, ist mit der „Gesamtsituation zufrieden“. Dennoch fordert er eine Weiterentwicklung: „Das Retail Media Angebot muss aus dem transaktionalen Umfeld herauskommen.“ Patricia Grundmann, Chefin von Obi First Media, sorgt sich, dass es die Kund:innen nervt, wenn Werbung gemacht wird, die keine Relevanz für die aktuelle Customer Journey ihrer Kundschaft hat: „Das darf nicht schiefgehen.“
Zwischen endemisch und nicht endemisch gibt es viele Zwischenstufen. Für Obi ist etwa Vodafone kein endemischer Kunde, aber dennoch passt ein Angebot für besseres WLAN zu vielen Renovierungsprojekten. „Solcherlei natürliche Verbindungen gibt es viele“, meint Paul Rottstegge, Head of Offer & Business Development bei First Media. Das hat zur Folge, dass die Baumarktkette sehr vorsichtig Werbeflächen zuteilt. Offene, programmatische Auktionen sind hier eher unwahrscheinlich. Kurzfristiges Wachstum sieht auch Jessica Koch zunächst bei der Bestandskundschaft. „Wir haben noch längst nicht alle endemischen Kunden an Bord.“ Das gilt auch, weil zahlreiche Werbungtreibende die erweiterten Möglichkeiten des Datenmarketings erst lernen müssen.
Retailer sind die datengetriebenen Publisher von morgen.
Torsten AhlersUnterdessen hofft die digitale Werbebranche, dass die Retailer ihre Daten nutzbar machen, damit man bei redaktionellen Publishern das Targeting verfeinern kann. Gleichzeitig fürchten die Händler nichts mehr, als die Hoheit über ihre Daten zu verlieren. Die technische Lösung dieses Dilemmas: der sogenannte Data Clean Room, eine Blackbox, in der Daten von Werbungtreibenden mit denen des Händlers verbunden werden, ohne dass jemand sie kopieren könnte. Händler sollten dazu ihre Daten vorbereiten. Es sollten „Datentöpfe“ entwickelt werden, die den Industriestandards entsprechen.
Rechnen und Aufrüsten
Hier kommt leistungsabhängige Vergütung ins Spiel. Solange das Vertrauen in diese Datenprofile noch nicht groß ist, tun sich Händler schwer, hohe Fixpreise zu verlangen. Koppelt man den Preis an die gemessene Leistung einer Kampagne, sinkt das Risiko für Werbungtreibende. Marketing-Urgestein Criteo lässt sich ab sofort von Integral Ad Science überprüfen, einer neutralen Testinstanz. Das ist ein deutliches Signal an den Markt.
Händlern stellen sich also zwei Aufgaben: Zum einen auszurechnen, wie das Verhältnis zwischen Einnahmen durch Produktverkauf und durch Werbung ist. Schlägt man die Werbekostenzuschüsse nämlich der Reklame zu, könnte es sein, dass der Händler schon signifikant Umsatz mit Retail Media macht, und das könnte neue Prioritäten setzen. Zum anderen gilt es, die marktübliche Technik aufzubauen. Der Handel weiß, was seine Daten wert sind, der Markt auch.
Das Thema Retail Media war eines der wichtigsten auf der diesjährigen Digital-Marketing-Messe Dmexco. Aber der Handel hat auch gesehen, dass in der Vergangenheit Fehler begangen wurden, vor allem im Umfeld von Programmatic Advertising. Torsten Ahlers ist sich sicher, dass man diese Fehler nicht wiederholt. „Meiner Meinung nach wird es den Durchbruch in den nächsten zwei bis drei Jahren geben. Es gilt jedoch bereits jetzt, die entsprechenden Weichen zu stellen.“ Dann, glaubt Ahlers, eröffne sich dem Handel eine rosige Zukunft: „Retailer sind die datengetriebenen Publisher von morgen.“