506 Shopping-Center zählt Deutschland aktuell, drei weniger als im Vorjahr. Es ist das erste Mal seit 1964, dass die Zahl rückläufig ist. Damals wurde im hessischen Sulzbach der erste Einkaufstempel nach amerikanischem Vorbild eröffnet.„Der Markt ist gesättigt“, urteilt auch Lars Jähnichen, Geschäftsführer der IPH Centermanagement GmbH, die 30 Objekte in der Republik betreibt. Diese Entwicklung habe sich über Jahre hinweg abgezeichnet, so der studierte Wirtschaftsingenieur weiter: „Das Mieterinteresse bei Neueröffnungen hat spürbar nachgelassen.“
Die Ära der Expansion ist zu Ende. Dennoch haben Center-Betreiber weiterhin alle Hände voll zu tun. „Ich erinnere mich nicht daran, je eine Zeit erlebt zu haben, in der so viele Herausforderungen auf uns eingeprasselt sind“, sagt Steffen Eric Friedlein. „Geschäftsmodelle mancher Mieter, die Jahrzehnte lang erfolgreich am Markt waren, werden plötzlich in Frage gestellt – und das nicht erst seit Corona“, führt der Vermietungschef der marktführenden ECE beispielhaft aus. Auf veränderte Kundenbedürfnisse verweist Anne Schwegler von Völkel Real Estate. Als Asset Managerin Leasing und Real Estate Consultant für die strategische Weiterentwicklung von bundesweit 20 Shopping-Centern mit zuständig,weiß sie: „Kunden möchten verstärkt etwas erleben,wünschen sich vor Ort eine stärkere Verzahnung von On- und Offline.“
Individuelle Lösungen sind gefragt
Wo Einzelhandel allein nicht mehr tragfähig ist, nimmt die Branche Multi-Use-Lösungen in den Blick. Daneben setzen die Verantwortlichen auf eine zielgruppengenaue Ausrichtung des Mieter-Mixes. „One Size Fits All“-Ansätzen erteilt ECE-Leasing-Geschäftsführer Friedlein eine Absage: „Wir haben den Anspruch, für jeden Standort den passenden Mix zu finden.“ Lars Jähnichen führt die Repositionierung des Gerbers in Stuttgart an:„Die Integration individueller Concept-Stores hat im Gerber immer schon das Besondere ausgemacht. Anstatt der klassischen Mainstream-Mode konnten wir mit Ikea, H&M Home und Søstrene Grene drei einrichtungsorientiere Mieter gewinnen, um einen neuen thematischen Anlaufpunkt zu schaffen.“
Ob konzeptionelle Neuausrichtung oder punktuelle Optimierung – die Wahl für oder gegen einen Mieter werde nicht aus dem Bauch heraus getroffen, sondern auf Grundlage bestimmter Kennzahlen. Dies sei bereits vor Anbruch des Big Data-Zeitalters der Fall gewesen, wie die Center-Betreiber unisono betonen. Und doch sind sie schon lange nicht mehr auf mühsame Kundenbefragungen angewiesen. Der Einsatz von Tracking- und Analyse-Programmenin Shopping-Centern ist mittlerweile gängige Praxis. Digitale Tools ermöglichen den Zugriff auf eine ungeahnte Informationsbasis. Der Markt wächst rasant. Womöglich schneller als die Nachfrage,wie Steffen Eric Friedlein durchblicken lässt. Dieser sieht Daten zwar „als wichtige Grundlage für Entscheidungen“, sagt aber auch: „Dienstleister bieten mir wahnsinnig viele Möglichkeiten für noch mehr Datenerhebungen an. Wenn man zurückfragt, was genau mit diesen Daten anzufangen sei, sieht man viele große Fragezeichen.“
Heatmaps und Strickmuster
Eine Kundenzählanlage am Eingang gehört zu den bewährten Klassikern. Die moderne Frequenzmessung geht im wahrsten Sinne weiter, „verfolgt“ Gäste auf Schritt und Tritt durchs Center. „Bis zu 40 Handysignale tracken anonymisiert die Kundenströme in unseren Centern. Visualisiert werden die Bewegungen in einer Heatmap, anhand derer wir frequenzstarke oder -schwächere Bereiche identifizieren“, so Anne Schwegler. Ähnliches berichtet Lars Jähnichen für IPH: „Wir sehen nicht nur die ‚warmen‘ und ‚kalten‘ Bereiche, sondern auch ‚Strickmuster‘ in unserem Center – sprich, welche Wege die Kundengehen.“
Im besten Fall lässt sich anhand der Bewegungsdatenablesen, welche Stores oder Branchen an einem Standort besonders gut performen und ob sich zwischen Mietern Shopping-Synergien ergeben. Wertvolles Wissen, das die Standortentwickler bei Nachvermietungen anzapfen. „Wenn wir feststellen, dass Kunden bevorzugt höherpreisige Shops aufsuchen, dann liefert uns das bei Positionierung der Immobilie Hinweise darauf, dass eine wertige Ausrichtung an dem Standort sinnvoll sein kann“,veranschaulicht Anne Schwegler.
Umgekehrt können „kalte“ Bereiche auf Unwuchten im Mieterkonzept hinweisen. „Wird der Laden nicht gefunden, haben wir womöglich etwas grundlegend falsch gemacht“, setzt Lars Jähnichen oben an. Vielleicht ist es ein bestimmtes Segment, das wenig nachgefragt wird. „Genauso kann es aber sein, dass der Mieter sein Abschöpfungspotenzial nicht voll entfaltet.“ Die Gründe gelte es in qualifizierten Mietergesprächen herauszufinden. Fehlt es an attraktiven Aktionsflächen? Hat sich die Beratungsqualität infolge eines Mitarbeiterwechsels geändert?
Weil Heatmaps den persönlichen Austausch mit dem Mieter nicht ersetzen könnten, halte sich die ECE im Tracking der Kundenströme vor Ort „eher zurück“, so Steffen Eric Friedlein. Dort arbeite man „viel mit der Verknüpfung eigener Primärdaten“, etwa aus Kundenbefragungen, sowie frei verfügbaren Daten. Mit zu den wichtigsten Primärdaten gehören bei der ECE die Umsatzzahlen. Schon allein aufgrund der rund 200 Einkaufszentren im Portfolio verfügt der Branchenprimus über eine schiere Menge an Benchmarks, die bei einer Entscheidungsfindung helfen. Welcher Anbieter performt an welchen Standorten überdurchschnittlich? Wer liegt hinter den Erwartungen? Vergleichswerte, die der Betreiber seinen Mietern – zumindest teilweise – für Analysezwecke zur Verfügung stellt. „Wir betreiben ein digitales Mieterportal, über das uns die Mieter ihre Umsätze unkompliziert mitteilen. Im Gegenzug machen wir unseren Mietern transparent, wie sie im Branchenvergleich abschneiden.“
KPI und Geoinformationen
Auch bei den Center- Managern von IPH und Völkel werden wirtschaftliche Kennzahlen in einen globalen Zusammenhang gestellt. „Dank unserer Datensammlung wissen wir, welche Umsatzmietbelastungen für unsere Mieter wirtschaftlich nachhaltig tragfähig sind. Bei Mietverhandlungen gilt nicht das Recht des Stärkeren. Es geht um einen fairen Ausgleich auf Augenhöhe“, so Jähnichen. „Die Umsatzhöhe allein sagt jedoch nicht viel aus, wenn sie nicht ins Verhältnis gestellt wird“, ergänzt Anne Schwegler.
ECE, IPH und Völkel beziehen daher Geoinformationen inihre strategischen Überlegungen ein: soziodemographischeoder infrastrukturelle Daten, die etwa Rückschlüsse auf die Kaufkraft der Bevölkerung einer Region oder die räumliche Nähe von Wettbewerbern zulassen. Völkel arbeitet mit einer Location-Performance-Plattform, die sich mit GPS-Daten verknüpft und anonymisiertes Tracking über das eigene Center hinaus erlaubt. „So können wir ermitteln: Wie lange ist die Aufenthaltsdauer? Wie war der Anfahrtsweg? Wieweit reicht unser Einzugsgebiet?“, führt Schwegler aus. Auch erhalte man einen Einblick in die Performance der Konkurrenz: „Das Tool liefert Vergleichswerte von bis zu 50 anderen Objekten.“
Der Werbenutzen von Standortdaten
Dieses Wissen lässt sich auch anderweitig einsetzen. Wer weiß, wo sich seine Kundschaft aufhält, kann seine Werbemaßnahmen zielgenau aussteuern. Bislang konzentrieren sich derartige Marketingmaßnahmen auf das Ausspielen von Ads im Internet bzw. den Sozialen Medien. Von der Möglichkeit, Rabattaktionen direkt aufs Smartphone auszusenden, sobald Kunden das Center betreten, machen die Unternehmen unterschiedlichen Gebrauch.
„Wir wissen von anderen Betreibern, dass Kunden sehr schnell genervt sind, wenn sie von allen Seiten Sonderangebote aufs Handy erhalten“, berichtet Lars Jähnichen. „Wir arbeiten an ausgewählten Standorten mit Apps und Push-Mitteilungen, um die Kundenbindung zu fördern“, berichtet hingegen Anne Schwegler für Völkel. ECE arbeite derzeit an einem App-basierten Bonusprogramm sowie einem digitalen Infosystem in den Centern, „über das wir Vorteile für treue Besucher ‚on the spot‘ ausspielen können“, so Steffen Eric Friedlein.
Trendthema Künstliche Intelligenz
Die Nutzung von KI steht vergleichsweise am Anfang. Sie kommt vor allem in der Auswertung großer Datensätze zur Anwendung. So wertet ECE mithilfe von NLP Algorithmen Google-Bewertungen aus. Welche Warensortimente vermissen die Besucher? Wo punktet die Konkurrenz? Wie kommt das neue Store-Konzept eines Mieters bei Kunden an? Die Antworten auf diese Fragen seien zwar „subjektiv eingefärbt“, aber „allein durch die schiere Masse von der Aussagekraft her nicht zu unterschätzen“.
Völkel testet ein KI-Monitoring, das einzelhandelsrelevante Veränderungen im lokalen Umfeld eines Objektes trackt. Das kann die Ansiedlung eines Lebensmitteldiscounters sein oder die Änderung eines Bebauungsplans. „Die KI scannt Veröffentlichungen wie Pressemitteilungen oder Amtsblätter – das bedeutet eine immense Zeitersparnis für unsere Researcher.“ Wenngleich Leasing-Managerin Schwegler betont: „Die Relevanz der Ergebnisse müssen unsere Kollegen prüfen.“
Bei allem technologischen Fortschritt, der für die kommenden Jahre nicht zuletzt auf dem Gebiet der KI zu erwarten sei – eines können sich die Experten schwer vorstellen: Ein Vermietungsgeschäft ohne menschliches Know-how, rein auf maschineller „Vernunftbasis“. „Die Daten sind kein Selbstzweck. Es braucht Menschen, die diese Daten verstehen und mit ihnen arbeiten können“, ist Lars Jähnichen für IPH überzeugt. Er sieht die digitalen Tools als Stützpfeiler qualitativer Urteile.
Ob ein bestimmter Center-Bereich weniger frequentiert sei, ließe sich mit bloßer Beobachtungsgabe erfassen, räumt auch Schwegler ein. In so einem Fall sei es aber häufig zu spät. Digitale Tools könnten wie ein Frühwarnsystem funktionieren: „Ist ein Mieter in Schwierigkeiten? Können wir gemeinsam Wege finden, die Abschöpfungsquoten zu optimieren? Oder müssen wir Alternativen etablieren, um eine allgemeine Schieflage abzufangen? Diese Daten versetzen uns in die Lage, rechtzeitig zu reagieren.“