Nach dem offiziellen Ende der Pandemie wagen sich viele Menschen schrittweise wieder zurück in das Leben, das sie von früher kannten. Dennoch sind die letzten Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Corona hat in kürzester Zeit globale Veränderungen hervorgerufen, die das Lebensgefühl weltweit beeinflusst haben und auch für die Retail-Landschaft nicht folgenlos geblieben sind.
Sah man vor wenigen Jahren Malls und Konsumtempel, konzipiert für ein hohes Aufkommen an Verbraucher:innen, noch in den Himmel wachsen, haben die Maßstäbe sich heute verändert: Man denkt kleiner, und an die Stelle von Statussymbolen und eines „Höher-Schneller-Weiter“ sind andere Werte getreten. Diese Entwicklung zeichnete sich bereits angesichts der Klimaveränderungen ab, doch während der Pandemie hat sie sich noch einmal verstärkt.
Luxus bedeutet heute mehr denn je Sicherheit, Geborgenheit und Zeit, die vorrangig mit Freunden oder im Kreis der Familie verbracht wird. Zudem prägt den Zeitgeist eine Nostalgie, der Wunsch nach Einfachheit, Beherrschbarkeit und Nähe zur Natur, der sich beispielsweise in der Stadtflucht manifestiert. So haben die Großstädte in Deutschland 2021 so stark an Bevölkerung verloren wie zuletzt 1994, das ermittelte jüngst das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.
Cocooning
Ein Ausdruck dieses Rückzugs ist ein Interior- Design-Trend, der insbesondere in China, aber nun auch in Europa und Südamerika an Einfluss gewinnt. Immer öfter begegnen uns höhlenartige Interieurs. Die Höhle als Schutz- und Rückzugsort, als Treffpunkt für Familie und Gleichgesinnte, erlebt im Ladenbau eine Hausse.
Doch hier wird es weder dunkel noch feucht: Die modernen Höhlen sind in helle, warme Naturtöne getaucht und begeistern durch biomorphen Formenreichtum. Daneben ist in
vielen Ladenkonzepten eine Tendenz zu rauen Betonoberflächen und strukturierten Naturmaterialien erkennbar. Farben sind weiterhin ein wichtiges Gestaltungselement. Pastelltöne beruhigen in einem Beispiel aus Los Angeles die Sinne, für Pop-up-Konzepte in London und Paris werden kräftige Farben eingesetzt, die einen Wow-Effekt auslösen.
Andernorts sorgt Mimikry für Überraschungsmomente: ein Vintage- Buchladen, der wie ein Supermarkt aussieht, ein Kosmetik- Store, der wie ein Großraumbüro aus den Siebzigern daherkommt, ein Geschäft für Cannabis-Artikel, dass einem Deli nachempfunden ist. Schon vor der Pandemie ließ sich beobachten, dass das Produkt gefeiert wird und zu diesem Zweck eine große Bühne bekommt.
Der Hype um einzelne Modelle scheint im Moment erfolgversprechender als die Präsentation einer großen Auswahl, die die Kund:innen womöglich überfordert – das gilt für It-Bags genauso wie für E-Fahrräder.
Wie in der Steinzeit
Das Motto „Komm in meine Höhle“ setzt sich von Shanghai und Peking bis nach Rio de Janeiro fort. So hat das chinesische Architekturbüro F.O.G. Architecture die 170 qm großen Innenräume des Flagship-Stores der Aromatherapiemarke To Summer in Peking mit amorphen Wänden und Kunststein ausgestattet. „Wir haben uns dafür entschieden, das natürliche Erscheinungsbild von Höhlen nicht 1:1 nachzubilden, sondern stattdessen die charakteristischen Oberflächen zu zeigen, um das sinnliche Erlebnis zu simulieren“, so das Statement von F.O.G. Architecture, dem von Zheng Yu und Zhan Di gegründeten Studio mit Büros in London, Shanghai und Chongqing.
Das Mobiliar spielt bei den Architekten eine nicht unerhebliche Rolle: Umgeben von naturfarbenen, geschwungenen Wänden erzeugt das cremefarbene Ensemble aus einem Togo-Sessel von Michel Ducaroy für Ligne Roset, einem Playdough-Stuhl und einem Couchtisch von Kar sowie organischen Spiegeln eine Gefühl von Wohnlichkeit. Eine der Hauptinspirationsquellen war der britische Designer Max Lamb. Seine steinzeitlich anmutenden „timber rotten“-Stühle finden in den Nischen des Ladens Platz.
Zum Dahinschmelzen
Naturnahe Formen und steinartige Oberflächen prägen auch das Innere des Bekleidungsgeschäfts Haight in Rio de Janeiro, das vom brasilianischen Büro AIA Estúdio in Zusammenarbeit mit dem Designer Raphael Tepedino entworfen wurde. Eine große Säule mit einer rauen, strukturierten Oberfläche dominiert das 110 qm große Ladeninnere. Ihr Radius erweitert sich nach oben, bevor sie mit der Decke verschmilzt und einen höhlenartigen Raum schafft. „Erosionsprozesse von Wasser und Wind, wie sie in der Natur vorkommen, haben unsere Kreativität angefacht“, erklärt Alice Tepedino, die Gründerin von AIA Estúdio und Cousine des Designers.
Steinplatten aus Speckstein und beigefarbenem Bahia-Marmor, die rund um die Hauptsäule angebracht sind, dienen als Präsentationsflächen. „Durch die Strukturierung der Warendisplays um die Säule herum wird die Bewegung innerhalb des Raumes organisiert“, erläutert Raphael Tepedino. Indirektes Licht, das er durch simulierte Risse in den „Höhlenwänden“ dringen lässt, beleuchtet die Szenerie wie vereinzelte Sonnenstrahlen.
Ein ähnliches Gestaltungs- und Lichtkonzept verfolgt das Architekturbüro Offhand Practice in einer Design-Galerie. Hier erwecken strukturierte Wände und künstliche Oberlichter den Eindruck, man befände sich in einer unterirdischen Grotte. Die im Shanghaier Stadtteil Xuhui gelegene 60 qm große Single Person Gallery besteht aus einzelnen Kabinetten, die sich auf vier Ebenen aneinanderreihen, womit die Architekten die Vorstellung verstärken wollen, in einen unterirdischen Raum hinabzusteigen.
Als Eingang dient ein niedriger Torbogen, der wie in die Fassade des Gebäudes gemeißelt wirkt. „Er kommt dem Höhleneingang, den wir uns vorgestellt haben, sehr nahe“, erklärt man bei Offhand Practice, „die Textur der Fassade sieht aus wie Stuck, in Wirklichkeit besteht diese aber aus Kieselsteinen.“
Sollbruchstellen
Doch nicht jeder will zurück in die Höhle. Die Umnutzung und Wiederbelebung von Industrieflächen ist ein weiterer Trend, der zwar auf den ersten Blick nicht neu scheint, dank aufwändiger und effektreicher Umgestaltung jedoch viele Überraschungsmomente bereithält. So besticht das Konzept des Fashionstores von XC273 by Xcommon im Herzen von Shanghai durch gestalterische Raffinesse und architektonische Authentizität.
Die ehemalige, dreistöckige Handtuchfabrik, mit deren Renovierung das ebenfalls in der Metropole am Huangpu-Fluss beheimatete Büro Dongqi Design beauftragt wurde, beherbergt nun ein neues Mode- und Kunstzentrum und wartet mit einigen besonderen Features auf: einem Klangtunnel im Erdgeschoss etwa, der die Kund:innen mit einem experimentellen Musikerlebnis empfängt, oder der riesigen, leeren Halle eines dreistöckigen Atriums, deren räumliche Weite durch ein Wasserbassin wie durch verspiegelte Decken und Wände noch zusätzlich unterstrichen wird. Rohe Flächen, jeglicher Dekoration beraubte Treppen und alte Terrazzo-Böden betonen den industriellen Charakter und geben dem Store ein ungewöhnliches, markantes Gesicht.
Ähnliches präsentiert die für ihre avantgardistischen Kollektionen gefeierte Modemarke Balenciaga, die ihr neues Store-Konzept auf der Londoner Sloane Street ausrollte. Auf alt getrimmte und künstlich abgenutzte Oberflächen treffen hier auf technische Elemente. „Raw Architecture“ nennt man das neue Retail- Konzept firmenintern, das Anleihen bei Baustellen und verlassenen Industriebrachen nimmt.
Wände und Säulen aus Beton zeigen Risse, unter dem Glasboden liegt Bauschutt, Kabel, Röhren, Beleuchtungs- und Belüftungssysteme an den Decken werden unverhohlen preisgegeben. Den spannenden Clash dazu erzeugen polierte Metalloberflächen für Regale und High-Tech-Displays.
Täuschungsmanöver
Im Kontrast zu den hellen Höhlen und den rauen Industriebrachen zeigt sich ein dritter Trend: Retail Spaces, die ihre Kund:innen mit Mimikry-Effekten überraschen. So hat beispielsweise Superette, der Anbieter von Cannabis-Artikeln, in Toronto in der Nähe eines Studentenviertels einen Store eröffnet, der einem poppigen italienischen Deli ähnelt. Grün-weiße Schachbrettfliesen treffen auf limettenfarbene Wände und tomatenrote Stühle.
Man unterstreiche damit den vor Ort herrschenden „geselligen Geist“, so das Inhouse-Design-Team von Superette, das den 500 qm großen Bedarfsshop plus Hangout für junge Erwachsene gestaltete. Im dänischen Aarhus versteckt sich in der ersten Etage eines majestätischen Renaissance-Gebäudes der Showroom eines Spezialisten für handgearbeitete Möbel und maßgeschneiderte Einbauten: Garde Hvalsøe. Der Schauraum vermittelt den Eindruck eines prächtigen privaten Apartments. „Unsere Kund:innen können unsere Produkte inmitten der wohnlichen Situation erleben“, so das Statement von Garde Hvalsøe.
Doch noch einmal zurück nach China, denn auch in der Disziplin Mimikry mischt das Land vorne mit. Dem Secondhand-Buch- und Modeladen Déjà Vu in Shanghai wurde von Offhand Practice die Optik eines minimalistischen Supermarkts verpasst, während AIM Architecture, ebenfalls Shanghai, die Kosmetikmarke Harmay in dem von Renzo Piano designten „OōEli-Art-Park“ Hangzhou scheinbar in die Räumlichkeiten eines Siebzigerjahre- Großraumbüros verfrachtet hat. Das Szenario besteht aus orangefarbenen Wandverkleidungen und schreibtischähnlichen Schmink- und Beratungsplätzen in leuchtendem Gelb, die in Reih und Glied stehen.
Bunte Paradiese
Überhaupt: Farben. So wie sie gegenwärtig in der Mode besonders präsent sind, beherrschen sie auch die Retail Spaces. Robert Vattilana, Art Director von Forte Forte, hat im ersten US-Store der italienischen Modemarke in Los Angeles ein Interieur mit pastelligen und goldenen Oberflächen geschaffen – als Reminiszenz an den kalifornischen Modernismus.
Bei Forte Forte am Melrose Place trifft pudriges Rosé auf Salbei- und Seegrasgrün: zurückhaltende Pastelle, wie sie auch bei Jonathan Simkhai auf der Mercer Street in New York zum Einsatz kamen. Unregelmäßige, sich überlappende Bögen, überzogen mit textilem Material in zarten Farben, unterteilten hier als temporäre Installation den Verkaufsraum.
Die Design-Agentur Aruliden hatte so die geometrische Formensprache und die typischen Cut-out-Elemente der Kollektion in ein stimmiges, kongeniales Interieur übertragen. Doch in Sachen Farbe geht noch mehr: Der britisch-nigerianische Künstler Yinka Ilori, der zurzeit in aller Munde ist und sich selbst als farbverrückt bezeichnet, verwandelte den Londoner Pop-up-Store für seine erste Home- Kollektion mit knallbunten geometrischen Displays in eine Art Spielzeugparadies.
Seine leuchtenden Malkastenfarben sind ein Ausdruck von Leichtigkeit und Lebensfreude, die vielerorts lange vermisst wurde und deren stimmungsaufhellende Wirkung fraglos hochwillkommen ist.
Stores of the Year 2022: Die Gewinner
Der Handelsverband Deutschland (HDE) hat das House of Schwarzkopf, Görtz im Düsseldorfer Kö-Bogen, Rewe Green Farming, das Möbelhaus Schweigert, Optiker Bode und das Mutterland Stammhaus als Stores of the Year 2022 ausgezeichnet. Die Preise wurden im Rahmen des Deutschen Handelsimmobilienkongresses in Berlin verliehen.
EuroShop RetailDesign Award 2023: Die Nominierten
Am ersten Abend der EuroShop, dem 26. Februar 2023, wird das EHI gemeinsam mit der Messe Düsseldorf die weltweit besten Store-Konzepte mit dem EuroShop RetailDesign Award (ERDA) prämieren. In diesem Jahr wurden 103 Projekte aus 31 Ländern eingereicht. 42 Projekte haben es in die Endauswahl geschafft, fünf davon erhalten den Preis. Aber auch die anderen nominierten Stores sind einen Blick wert.