Eine der extravagantesten Glasfassaden im Einzelhandel ist sicherlich das Geschäftshaus Nummer 94 in der Hooftstraat in Amsterdam. Die frühere Wohngegend ist inzwischen die Adresse von Luxusmarken. Im Auftrag des Immobilienentwicklers Warenar Real Estate suchte das Architekturbüro MVRDV nach einer Möglichkeit, die Fassade für einen Flagshipstore zeitgemäßen Zuschnitts in das historische Gebäude zu konzipieren und dabei den traditionellen holländischen Baustil zu wahren. MVRDV fand die Lösung im extensiven Einsatz von Glas. Die fast vollständig aus Glasbausteinen statt der ursprünglichen Ziegelsteine gebaute Fassade ahmt die originale Gebäudearchitektur detailgetreu nach bis hin zur Schichtung der Steine und den Fensterrahmen. Dabei wurde die Fassade optisch etwas in die Höhe gestreckt, um der Einzelhandelsetage mehr Raum zu geben. Die Geschossdecken wurden mit angehoben, die architektonische Identität beibehalten. Oberhalb der ersten Etage gehen die Glassteine wieder in die üblichen Ziegelsteine über.
Dem Gebäude und dem Chanel-Store darin verschaffte die innovative Architektur die großzügige Außenwirkung, die von einem Store im Luxussegment erwartet wird. Die Architekten hoffen, mit ihrem Designkonzept „Crystal Houses“ eine Lösung gegen die Uniformität und den Verlust des lokalen Charakters in vielen High Streets internationaler Metropolen entwickelt zu haben.
Die Glasfassaden im Einzelhandel werden, wo möglich, höher und großformatiger. Dank Isolierverglasung ist die Wärmedämmung kein Hinderungsgrund mehr für große Glasflächen. Transparenz und Offenheit sind angesagt. Die Kölner Architektin Ahuti Alice Müller erläutert das Umdenken, das im Handel stattgefunden hat: „Früher mit der klassischen ‚Lochfassade‘ zeigte man im Fenster nur einen kleinen Ausschnitt seines Sortiments, um Anreize zu schaffen und die Kunden in die Läden zu locken. Heute verfährt man eher umgekehrt und sucht die großen Glasfronten. Der vordere Innenraum wird zum Schaufenster und lädt den Kunden direkt ein, das Geschäft zu betreten. Ist die Glasfassade tagsüber ganz geöffnet und die Trennung von Innen und Außen fast aufgehoben, greift das die Idee des Markstands auf, wo der Kunde um die Ware herumlaufen kann.“ Vielfach unterschätzt werde eine damit verbundene Gratwanderung: „Eine offene Front senkt die Schwelle einzutreten, kann aber auch sehr unverbindlich wirken. Wenn der Kunde das komplette Sortiment auf einen Blick erfassen kann, bleibt es häufig bei einem flüchtigen Vorbeistreifen. Je offener eine Fassade, umso bewusster müssen Raumdramaturgie und Sortiment aufeinander abgestimmt und gestaltet sein, um den Kunden neugierig zu machen und durch den Laden zu führen.“
Grenzen aufbrechen
Im Zuge seiner jüngsten Modernisierung wurden die eingeschossigen Baukörper des Ruhr Park in Bochum durch bis zu 7 m hohe Glasfassaden mit zeitgemäßer Außenwirkung ausgestattet. Zwei Etagen hohe Shopfronten werden auch in vielen anderen Einkaufscentern, die sich in Restrukturierung oder Neubau befinden, eingebaut, um die räumlichen Grenzen optisch und emotional aufzubrechen. „Wir arbeiten bereits mit Glasformaten von bis zu 15 mal drei Metern, was vor Kurzem noch undenkbar war“, erläutert Lars Hartwich, CEO der auf Shopfronten spezialisierten Planbar Shopsysteme GmbH.
Ähnlich wie bei dem Konzept „Crystal Houses“ setzen Marken im gehobenen Segment verstärkt auf Fassaden-Highlights, um ihre Markenwelten schon vor dem Store spürbar werden zu lassen, bestätigt Hartwich: „Neben größer werdenden Formaten der Glas- und Fassadenhöhen spielen bei aller Reduziertheit hochwertige Details eine immer wichtigere Rolle. Neben den üblichen Grundmaterialien wie Stahl, Aluminium und Edelstahl werden farbintensives Messing, außergewöhnliche Kunststoffe, einzigartiges Corian, natürliche Hölzer und vieles mehr für Rahmen und Profile zum Einsatz gebracht.“
Zeitgemäße Glastechnik erweitert auch das funktionale Spektrum. So zum Beispiel durch Glasscheiben mit Entspiegelung, wie sie bei Uniqlo oder auch den Porsche Design-Stores eingesetzt werden. „Ein Produkt ohne jede Verzerrung und Lichtspiegelung wahrzunehmen, erzeugt eine besondere Nähe zum Objekt. Entspiegelte Gläser werden daher von Marken bevorzugt, die ihre Produkte zelebrieren und die Brillanz der Objekte zum Ausdruck bringen wollen“, sagt Katharina Krause, Marketingleitung bei Glasfischer Glastechnik.
Verbundsicherheitsgläser mit UV-blockierender PVB-Folie kommen heute bei Shopfronten vermehrt zum Einsatz. Für besondere Einsatzbereiche, wenn zum Beispiel UV-Licht erwünscht ist, weil hinter den Scheiben Pflanzen gedeihen sollen, bieten Unternehmen wie Glasfischer wiederum spezielle Hightech-Konstruktionen an wie das Markenprodukt „Gewe-composite“ mit einer UV-Durchlässigkeit von ca. 70 Prozent, ein Verbundglas mit speziell abgestimmter Polymerfolie.
Multimedia-Schaufenster
Mit Werbeschriftzügen oder Klebemotiven können Fensterfronten saisonale Verkaufsunterstützung bieten und die Außenwirkung immer wieder verändern. Die Vielfalt der Funktionen nimmt weiter zu, aktuell um die Dimension Multimedia. Das Schaufenster als Touchpad aus Glas ist keine Vision mehr. In der Kommunikation mit dem Kunden übers Schaufenster wird Glas zum transparenten Medium, das digitale Information nicht nur durchlässt, sondern transportiert und Interaktion zwischen Kunde und Einzelhandel zu jeder Tageszeit ermöglicht. „Weiterentwicklungen in Profil-, Glas- und LED-Lichttechnik sowie die Einbindung von Multimedia in den Fassaden werden in den kommenden Jahren wesentlich voranschreiten“, prognostiziert Hartwich.
Hohe Glasfronten, die Shops zu Konsumtempeln machen und State-of-the-Art in den Einkaufszonen geworden sind, können in Konflikt mit der Architektur von Bestandsbauten geraten. „Im Vergleich mit modernen Geschäftshäusern wirken viele Läden im Bestand sehr dunkel“, sagt Katharina Krause von Glasfischer. Hier spielt die Ausleuchtung der Fensterfronten eine besondere Rolle. Die Außenverglasung muss im Bestand individuell an energetische Vorgaben, Baurichtlinien und Denkmalschutz angepasst werden. Krause: „Marken wie etwa Desigual haben sich auf Läden in Bestandsgebäuden spezialisiert. In der bewussten Gestaltung der Gebäudehülle mit Glas erkennen sie ein ideales Differenzierungsmerkmal.“
Die „Schmuckmanufaktur“ Niessing, die vor wenigen Wochen in der Kölner City eine Filiale eröffnete, ließ die Storefront des kleinen Geschäftshauses komplett umbauen, um den zuvor schmalen Schaufensterbereich zu vergrößern und eine ruhige Betrachtungszone im erweiterten Straßenraum zu schaffen. Ein Teil der ursprünglichen Ladenfläche wurde dem Eingangsbereich zugeschlagen und zu einer kleinen Passage umgebaut. Niessing-Läden verzichten auf die sonst bei Juwelieren der gehobenen Klasse übliche Klingel und Eingangskontrolle. „Wir gestalten den Ladenraum in seiner Gesamtheit als Schaufenster“, erklärt Niessing-Geschäftsführer Klaus Kaufhold. Die Sicherheitsvorkehrungen werden anderweitig abgedeckt, u.a. über die Präsentationsmöbel und Vitrinenschränke.
Sicherungsbedarf – bei allen Branchen mehr oder weniger vorhanden – haben neben den Juwelieren etwa auch Tankstellen mit Nachtöffnung. „Anders als häufig vermutet müssen die heutigen Glastüren und -scheiben keineswegs die Schwachstellen eines Sicherheitskonzepts sein“, betont Katharina Krause. „Beim Einsatz der richtigen Sicherheitsverglasung ist es nahezu unmöglich einzudringen. Und für erhöhten Sicherheitsbedarf gibt es spezielle Sicherheitsgläser wie Alarmglas.“
Fotos (4): Daria Scagliola & Stijn Brakkee (1), Escada (1), Niessing (1), Glasfischer (1)
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