Der Department-Store habe seine Wurzeln im 19. Jahrhundert, das Konzept der Boutique reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück, und selbst der Concept-Store sei eine Erfindung bereits aus dem 20. Jahrhundert. „Das Verständnis, mit dem wir heute Handel betreiben, stammt aus dem letzten Jahrhundert und früher. Doch im aktuellen Jahrhundert haben sich die Parameter komplett verändert“, meint Lidewij Edelkoort. Statt bloßer Anpassung der üblichen Handelsformate sei eine rigorose Re-Invention, eine Neu-Erfindung erforderlich, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern.
Der Konsument, von der anhaltenden Informationsflut überfordert, sehnt sich nach Einfachheit und ruhigen Ausdrucksformen. Im Handel wird sich dieser Trend in einer Abgeräumtheit in Sortiment, Sortimentsumfang und Storedesign niederschlagen: Qualitäten, die wahrnehmbar und wohltuend sind, reduzierte Formen und Farben, weniger, aber dafür perfekt ausgefeilte Details in einfacher Verpackung, Stille statt Geräusch, Erholung statt Überforderung bilden die neuen Maßstäbe. Ziel sollte immer sein, Stimmung, Bewusstheit und Vertrauen der Konsumenten zu steigern.
Damit einher geht die Entwicklung zu kleineren Store-Formaten. „Es gibt keine Notwendigkeit, immer größer zu werden. Es müssen keine Kathedralen sein“, mahnt Edelkoort. Sie empfiehlt vielmehr, große Räume mit Wänden, Vorhängen o.Ä. in kleine Parzellen zu teilen, um dem Menschen die Geborgenheit geschützter Räume bieten zu können. Im kleineren Format läge mehr Intimität, und die sei dem Kunden viel wertvoller als schiere Größe. Im Zuge dessen schreibt Edelkoort dem Gegentrend zum Mix & Match-Konzept aus den 80ern, also zum Concept-Store, große Zukunftschancen zu: kleine Flächen, die eine singuläre Produktgruppe hochspezialisiert in allen Facetten anbieten.
Zu Ende gedacht
Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein gelten lange schon als wichtige Themen, wurden aber als Idee für Design noch nicht ausreichend ausgebaut, meint Edelkoort. Original-Materialien aus der Natur wie Wolle oder Holz, pur und unverfälscht zum Einsatz gebracht, würden die Sensibilität für Tier- und Umwelt erhöhen. Um den Kunden zu involvieren, schlug sie vor, zum Beispiel den Schafskäse zur Schurwolle anzubieten, Tee und regionale Spezialitäten. Oder auch, über einen in den POS integrierten „Kids Club“ Kindern den Kontext zwischen Natur, Tier, Kleidung und Mensch, Genuss und Nahrung nahezubringen.
Vordenkerin
Lidewij Edelkoort gehört zu den wichtigsten Trendforscherinnen weltweit, das Time-Magazine zählte sie 2003 zu den 25 einflussreichsten Personen der Modebranche. Bereits in den 80er-Jahren veröffentlichte die gebürtige Niederländerin innovative Trendbücher und audiovisuelle Trendprognosen und bereitete so den Weg für ein professionelles Trend-Forecasting. Mit einem weltweiten Mitarbeiter-Netz berät sie globale Marken-Unternehmen. Sie lehrt an Hochschulen, kuratiert Ausstellungen und erhielt diverse Awards für Verdienste um Design.
Den Luxus-Gedanken komplett neu zu denken empfiehlt Edelkoort, um Luxus-Marken zu revitalisieren. Sie fragt: „Warum gibt es eigentlich kein Deodorant von Armani?“ Der Lifestyle des Loungings würde vom Luxussegment bislang ausgespart, „dabei könnte dies den Luxusmarken neuen Sinn geben.“ Seifen und Cremes, Pyjamas und Sweatshirts, Bedding-Artikel, Spa, Massage und Wellbeing könnten viel stärker auf Shopping-Areas abgebildet werden, um zeitgemäße Bedürfnisse abzudecken. „Schlafzimmer und Wohnraum verschmelzen zu Hause immer mehr zu einem einzigen Raum für Spiel, Sex und Unterhaltung“, so Edelkoort. Demzufolge sollten Bewirtung und Gastfreundlichkeit auch am POS tragende Rollen zuteil werden, um dem vernetzten Menschen Raum für seine digitalen Aktivitäten anzubieten und um Sport, Geselligkeit und Begegnung zu vereinen. „Entertraining“ nennt es die Trendforscherin. Ihr Beispiel: Ein Shop, der zur Loungewear auch gleich das gemeinsame Yoga-Frühstück anbietet. Edelkoort: „Und für solche Aktivitäten brauchen wir die passenden Räume und Flächen.“
„Ich vermisse wirklich neue Ansätze“
Li Edelkoort sagt, was sie vom sogenannten Erlebniskauf und von digitalen Helfern im Laden hält und verrät, welcher ihr Lieblingsladen ist.
Der Handel steht vor massiven Herausforderungen. Auch Sie sprechen von einer Periode großer Veränderung. In welchem Stadium des Wandels befinden wir uns?
Es herrscht viel Bewegung und es wird viel verändert und optimiert, aber wir treten dennoch ein wenig auf der Stelle, da dieselben Dinge immer wiederholt werden. Was ich noch weithin vermisse, sind die wirklich neuen Ansätze für die neue Ära. Aus diesem Grund halte ich diesen Vortrag, der als „Eye-Opener“ ermutigen soll, völlig neu zu denken.
Wir reden derzeit viel von Erlebnis-Inszenierung am POS. In Ihrer Präsentation war davon nicht die Rede.
Ganz bewusst nicht, da ich der Überzeugung bin, dass allein das Angebot, das ein Händler bereithält, für das Einkaufserlebnis zuständig ist. Raum, Ware und Service bilden das Einkaufserlebnis. Zusätzlich zugefügte, aufgestülpte Experiences oder Events halte ich für kontraproduktiv, da sie vom Eigentlichen ablenken.
Was denken Sie über digitale Features im Laden?
Wir brauchen sie, solange sie den Einkaufs-Prozess erleichtern, unterstützen oder dem Kunden echte, wichtige Information liefern. Auch hier entscheidet die Kernfrage: Stärke ich damit das Vertrauen des Konsumenten?
Wo ist die Handelslandschaft Ihrer Meinung nach besonders zukunftsgewandt?
Es gibt in Metropolen wie London, Tokio oder Paris immer wieder einzelne herausragende Geschäftsmodelle zu entdecken. Alles in allem halte ich jedoch Asien für besonders progressiv, vor allem Japan und besonders Tokio. Dort gibt es zum Beispiel eine Gasse, in der sich ausschließlich Mono-Shops der neuen Art aneinanderreihen mit professionalisierten, zugespitzten Angeboten.
Was ist Ihr persönlicher Lieblings-Shop?
Zurzeit ist es der Dover Street Market in London. Ich mag den Marktplatz-typischen Mix von Dingen, Menschen und Begegnung. Von solchen ursprünglichen Formen von Handel können wir lernen, auch in Bezug auf neue Konzepte.
Lidewij Edelkoort: Trends und Thesen
Sanctuary – Die Gesellschaften wenden sich von ihren traditionellen Religionen ab und einer neuen Spiritualität zu.
Eco – Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein als Basis für Design.
Re-Luxury – Integration von Wellbeing und Lounging-Themen in Marken-Portfolios.
Streaming – Elektronischer Lifestyle braucht moderne Architektur.
Monomind – Als Gegenbewegung zum Concept Store-Gedanken entstehen Mono-Shops, die sich über absolute Professionalität in einer einzigen Produktgruppe profilieren.
Online – Die Web-Welt braucht ein Lifting mit viel mehr Kreativität und Design.
Boyfriend – Gender-gemischte Abteilungen im Retail und ein Unisex-Design ohne Unterschiede zwischen Frauen und Männern.
General Store – Casual-Lifestyle wird mit passenden Zusatz-Artikeln am POS abgerundet.
Vagabond – Die Umgebung nehmen, wie sie ist – unverkleidete Wände, raue Oberflächen, vorgenutzte Räumlichkeiten, Verschleiß akzeptieren.
DIY – Individuelle kunsthandwerklich angefertigte Unikate faszinieren.
Caravan – Mix von globalen Kulturen und Lebensstilen.
Bloom – Blumen bleiben ein wandelbares Dauerbrenner-Thema.
Theatre – Zirkus, Theater, Burleske als Synonyme für Ausgehen und Entertainment.
Noir – Schwarz ist die Farbe, um anonym zu sein und sich zu verstecken.
Bordello – Ein Concept-Store, in dem Sex Toys, Fetisch- und andere „unanständige“ Waren aus der Schmuddelecke geholt und ästhetisch inszeniert werden.