Retail-as-a-Service-Stores ermöglichen Herstellern einen direkten Kontakt zur Kundschaft. „Anstatt Ware einzukaufen und zu verkaufen – so der klassische Weg – stellt der Handel dem Hersteller in diesem Fall Fläche zur Verfügung, indem er sie an ihn vermietet“, so Handelsexperte Wolf-Jochen Schulte-Hillen. Anbieter von RaaS-Stores fungieren dabei als Dritte, die die Abwicklung übernehmen. Welche Services sie den Marken bieten, variiert: Neben der Fläche stellen RaaS-Konzepte häufig den Ladenbau, Zahlungs- und Analysetechnologien, Personal und Bestandsmanagement und verantworten die Auswahl der Produkte sowie ihre Zusammenstellung und Inszenierung. RaaS-Stores präsentieren einen Sortimentsmix in einem minimalistisch gestalteten, technologiegestützten Umfeld. Unterschiede der einzelnen Konzepte lassen sich in der Produktauswahl, der Art der Inszenierung oder den Services für die Hersteller erkennen.
Seinen Ursprung hat Retail as a Service in den USA. Vor dem Hintergrund, dass sich online innovative Produkte finden lassen, die der stationäre Handel nicht bietet, gründeten Vibhu Norby, William Mintun, Phillip Raub und Nicholas Mann 2015 „B8ta“. Ziel war es, „Räume zu erschaffen, in denen Shopper die neuesten einsatzfähigen Produkte ausprobieren können“. Das Motto: „Try before you buy“. Nicht der Umsatz pro qm zählt, sondern das Erlebnis. Zur Unterstützung der eigenen Filialen entwickelte B8ta das RaaS-Modell. Das Prinzip fruchtete: Auf ihre erste Testfläche in Palo Alto/Silicon Valley folgten etliche Geschäfte landesweit. Das Modell fand Nachahmer – weltweit. In den USA zählen u. a. „Neighbourhood Goods“ von Alexander Matt und „Showfields“ von Tal Zvi Nathanel mit Filialen in New York und Miami zu den RaaS-Anbietern. In China laden z. B. die „JD Retail Experience Shops” des Retail-Giganten JD.com zum haptischen Erlebnis ein. Auch B8ta selbst ist inzwischen u.a. in den Arabischen Emiraten und China aktiv.
Neighbourhood Goods
Mit je einem Store in Plano und Austin im US-amerikanischen Bundesstaat Texas sowie einem Store in New York City zählt auch das 2018 von Alexander Matt initiierte Konzept Neighbourhood Goods zu einer Art „Retail as a Service“-Store. Präsentiert werden in den jeweils individuell gestalteten Läden vorwiegend Marken, die sich sowohl online als auch offline inszenieren lassen.
Marken, Storylines und Ereignisse sind kontinuierlich im Wandel. Ziel ist es, ein Treffpunkt für die Gemeinde zu sein, die Menschen zusammenzuführen. Bestandteil des Konzepts sind neben dem Shop auch die eigenen Restaurant- und Bar-Konzepte „Prim and Proper“ und „Tiny Feast“.
Handel definiert sich neu
Durch die Untervermietung der stationären Flächen könne ein RaaS-Anbieter seine Kosten senken, erklärt Schulte-Hillen einen Vorteil des Konzepts und ergänzt: „Der Handel wird zum Dienstleister.“ Der Hersteller wiederum erwarte eine Gegenleistung. „Über im Store eingesetzte Technologien werden Daten gesammelt und den Herstellern zur Verfügung gestellt, um den Erfolg ihrer Waren auf der Fläche zu analysieren. Mithilfe von Sensoren beispielsweise lassen sich die Bewegungsabläufe der Kundschaft tracken“, so Schulte-Hillen. Weiterhin liefern Displays mit QR-Codes Daten zu den Verhaltensweisen der Konsument:innen. Scannen Shopper einen QR-Code im RaaS-Store, werden sie i.d.R. auf die Website des Geschäfts geführt, um z. B. ihren Kauf abzuschließen.
Damit der Händler seiner Aufgabe als Dienstleister gerecht wird, muss er in punkto digitale Technik und Personalqualität immer state of the art sein, meint Schulte-Hillen. Das mache ihn begehrenswert für Start-ups. Aber auch etablierte Marken nutzen die Möglichkeit, neue Produkte im Markt zu testen, bevor sie in Serie gefertigt werden. Da Waren oftmals nach Bedarf produziert werden, kommen RaaS-Stores oft mit wenig oder ohne Lagerflächen aus.
Retail as a Service in Deutschland
Blaenk Schildergasse 31, 50667 Köln
Freiraum Quartier 205, Friedrichstr. 68, 10117 Berlin
The Latest Kurfürstendamm 38, 10719 Berlin
Vaund Georgstraße 14, 30159 Hannover
Umsetzung in Deutschland
Auch in Deutschland gibt es immer mehr RaaS-Stores. „Infolge der zu erwartenden Schließungen in Shopping-Centern und Einkaufsstraßen zeichnet sich ein neuer Trend zur so genannten Sharing Economy ab“, meint Wolf-Jochen Schulte-Hillen.
Jüngstes deutsches RaaS-Konzept ist „The Latest“, das im November in Berlin eröffnet wurde. Dort wollen Gründer Martin Schnaack und Co-Founder Dhi Matiole Nunes den Entdeckertrieb der Kundschaft erwecken. Der Name ist Programm: The Latest listet ausschließlich Produkte, die entweder neu für den Markt sind, nur online vertrieben werden oder im stationären Einzelhandel in Deutschland noch nicht zu finden sind – von Start-ups, jungen und etablierten Marken aus den Bereichen Technologie, Design, Fashion, Lifestyle, Genuss und Gesundheit. Für eine monatliche Fixgebühr erhalten Warenhersteller eine Präsentationsfläche inklusive Ladenbau, Zugang zu den Instore-Analysedaten und Präsenz in einer Kampagne sowie auf der Latest-Website. Für weitere Leistungen, z. B. die Übernahme der gesamten Logistik, fallen Aufpreise an. Den generierten Umsatz erhalten Marken zu 100 Prozent zurück.
Ähnlich sind die Konzepte von „Blaenk“, „Vaund“ und „Freiraum“. Blaenk war eine Idee des Unternehmens Brickspaces, das erstmals 2019 in Düsseldorf aufpoppte und seit Ende 2020 einen Standort in Köln hat. Das Besondere: Der Store inszeniert Lifestyle- Produkte in einer Umgebung, die einem Apartment nachempfunden ist. Mithilfe KI-gestützter Kameratechnologie zeichnet Blaenk das Besucherverhalten auf und kann dank einer zentralen Kasse Einkäufe nachverfolgen und Warenkörbe analysieren. GPS- und Wifi-Daten liefern Informationen zur Kundschaft und deren Interessen.
Vaund, eine Marke des Unternehmens Realtale, versteht sich als Ausstellungsfläche für „außergewöhnliche“ Premium- waren – in Hannover mit eigenem Store, bei Engelhorn in Mannheim mit einem Shop-in-Shop und bald auch bei L&T in Osnabrück. Charakteristisch für Vaund sind Warenträger mit einer Kabelführung, über die die gezeigten Produkte mit Strom versorgt und somit vor Ort erprobt werden können. Während seiner Mietlaufzeit wechselt ein Produkt zudem mehrfach seinen Standort. Tablets und QR-Codes liefern dem Hersteller Erkenntnisse über die Attraktivität seines Produktes. Bei Bedarf betreibt Vaund Marktforschung für die Hersteller.
Freiraum nennt sich das Konzept der Immobilien-Experten Franz de Waal und Emanuel Elverfeldt im Quartier 205 in Berlin. Hier liegt der Fokus auf online-affinen Marken aus den Bereichen Mode, Beauty und Interior Design, die z. B. über soziale Netzwerke wie Instagram vertrieben werden.
Retail as a Service in Corona-Zeiten
Auch Retail as a Service-Anbieter spüren die Folgen der Corona-Pandemie. „Der Lockdown hat uns vier Monate nach Öffnung unseres ersten Ladens Wind aus den Segeln genommen, was die Offline-Experience betrifft. Wir haben aber auch Zeit gewonnen, um den technologischen Aspekt unserer Vision auszubauen. Zuletzt haben wir einen Online-Marktplatz mit über 120 so genannten Direct-to-Consumer-Marken aufgebaut und die digitale Anbindung an die Offline-Flächen realisiert“, so die Gründer von Freiraum.
Vaund-Geschäftsführer Michael Volland sagt: „2020 haben wir Wellenbewegungen gespürt, bis Herbst abflachend, danach aufsteigend, sodass wir bis zum Jahresende 30 Prozent mehr Hersteller zu unseren Kunden zählten als zu Jahresbeginn. Auch der Anteil der Online-Einkäufe ist in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen.“
Auch Blaenk-CEO Martin Bressem schaut trotz aller Umstände positiv in die Zukunft: „Konzepte wie unsere werden nach der Pandemie relevanter denn je, weil Endkunden gezielt Orte aufsuchen werden, die emotionalisieren und ein positives Erlebnis schaffen. Flexible Konzepte bieten Marken die Möglichkeit, sich unverbindlich in Toplagen präsentieren zu können.“
Schulte- Hillen meint: „Retail as a Service oder besser noch Retail as an Experience getreu dem B8ta-Motto kombiniert die Vorzüge des stationären Handels mit denen des Online- Handels. Wichtig ist das Kuratieren des Sortimentes, das regelmäßig wechseln sollte, um nicht gewöhnlich zu werden.“