Die Regale im Supermarkt sind leer, obwohl sich die Ware im Lager stapelt. „Out-of-Shelf“ bedeutet für jeden Einzelhändler verschenkter Umsatz, wenn er nichts dagegen unternimmt. „Mit Big Data lässt sich dieses Problem lösen“, erklärte Thomas Friedl, Geschäftsführer der Rewe Systems GmbH, in seinem Vortrag auf den EHI-Technologie Tagen 2016 in Bonn. Friedl und Rewe IT Consultant Sven Weishaupt präsentierten ausgewählte Praxisbeispiele zu den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Big Data Analytics im Handel.
Um Out-of-Shelf- Situationen zu vermeiden, erfolgt ein permanenter Abgleich von historisch errechneten Profilen mit den aktuellen Abverkaufsdaten aus den Kassensystemen, mit einem zeitlichen Verzug von circa zwei bis fünf Minuten. Bei „Lückenverdacht“ wird die Meldung vom zentralen IT-System in die Märkte „getriggert“. Auch bei der Vermeidung von Out-of-Stocks helfen Big Data- Analysen, „die Prognosegüte kontinuierlich zu optimieren“, so Weishaupt weiter. Tagtäglich würden in allen Rewe- und Penny-Märkten 70 Mio. Dispositionsentscheidungen getroffen. Die große Mehrzahl läuft automatisiert ab, der Rest wird immer noch manuell bestellt.
Die Analyse der Einflussfaktoren, warum manuell in die Disposition eingegriffen wird, ist ebenfalls Bestandteil eines aktuellen Big Data-Projekts bei der Rewe. Für 2017 plant der Handelskonzern weitere Big Data-Projekte mit dem Ziel, die Prognosegüte weiter zu verbessern. So soll das Analytics-Projekt „Digitales Viertel“ in den Praxis-Test gehen. Hierzu werden 90 Märkte in ausgewählten Kölner Stadtbezirken mit Beacons ausgestattet, um geobasierte Marketinginformationen für Smartphone-Kunden zu testen. Darüber hinaus soll das Klick- und Surf-Verhalten von Payback-Kunden an den Terminals im Markt analysiert werden.
Einen ersten Erfahrungsbericht über die Betriebsintegration eines neuen Kassensystems in den Kaufland-Filialen lieferte Klaus Bongartz, Projektleiter bei Kaufland Informationssysteme GmbH & Co. KG. Die Entwicklung und Implementierung einer komplexen Individual-Software braucht Zeit: Nach dem Projektstart vor zwei Jahren ging im April 2016 der erste Kaufland-Pilotmarkt in Tschechien an den Start. Bongartz betonte in seinem Vortrag die Wichtigkeit des Kriteriums „Betriebsintegration“ im Auswahlprozess der Lieferanten von Kassensystemen. Die Anpassung einer Individual-Software an die betrieblichen Anforderungen stelle ein hohes Risiko dar, Architektur-Probleme könnten „schmerzhafte Störungen“ verursachen, so Bongartz. Das Fazit zum derzeit laufenden Rollout fällt positiv aus: Nach der Implementierung von „K-POS“ sei nun ein unmittelbarer Zugriff auf die gesamte Systemwelt, die Infrastruktur und die Applikationen möglich. Für die Service-Prozesse stehen Live-Informationen über den Ist-Zustand in einem Tool unmittelbar zur Verfügung. Projektpartner von Kaufland ist der Software-Entwickler Gebit Solutions.
Chinesische Touristen können seit Juli 2016 in mehr als 60 Geschäften des Münchner Flughafens mit der Alipay-App mobil via Smartphone bezahlen. Alipay ist in China weit verbreitet. Rund 450 Mio. Anwender nutzen diese App, die rund 70 Prozent des mobilen Bezahlvolumens in China abdeckt. André Dlugos von der Eurotrade Flughafen München Handels-GmbH berichtete, dass 19 Prozent der chinesischen Passagiere in den Flughafen-Stores diese App beim Bezahlen einsetzen. Dabei ist Alipay kein klassisches bargeldloses Bezahlverfahren, sondern bietet den Nutzern darüber hinaus verschiedene Services an wie Flugbuchungen, Taxi-Bestellungen oder Tischreservierungen in Restaurants. Kooperationspartner bei dem Münchner Projekt ist der Zahlungsdienstleister Wirecard und das IT-Systemhaus Poresy. Während Wirecard den Geldfluss und die Währungsumrechnung steuert, implementiert Poresy als Systemintegrator die Alipay-Anwendung in die Kassensysteme der beteiligten Händler.
Innovative digitale Services
Künstliche Intelligenz und ihr Nutzen für den Handel, innovative Mobile und Big Data-Anwendungen, neue Ideen für erfolgreiche Online-Services – mit diesen Themen befasste sich der „Innovationsblock“ auf den EHI Technologie Tagen.
Dr. Antonio Krüger, Professor an der Saarland University und Leiter des„Innovative Retail Laboratory“ (www.innovative-retail.de), arbeitet mit seinem Team u.a. an einem „digitalen Haushaltsbuch“. Dabei werden abfotografierte Einkaufsbons von einer Software analysiert und daraus ein detailliertes Bild des Einkaufsverhaltens einer Person abgeleitet. Außerdem befasst sich das IRL mit dem Einsatz von Drohnen auf der Handelsfläche.Künftig könnten Drohnen nach Geschäftsschluss durch die Regalfluchten fliegen, über Kameras Out-of-Stock-Situationen identifizieren oder sogar eine komplette Video-Inventur machen. Erste Test dazu wurden bereits in einem Einkaufsmarkt durchgeführt.
Ein immer wichtigerer Wettbewerbsfaktor werden Big Data-Anwendungen. Hierzu bietet die Deutsche Telekom dem Handel einen interessanten Service: Ob Telefonie, Surfen oder Sprachnachrichten – das Unternehmen erfasst alle Aktivitäten in seinen Mobilfunk-Netzen und wertet sie statistisch aus. „Dadurch ist es möglich, tagesaktuell repräsentative Aussagen über Verbraucher-Bewegungsströme zu treffen, außerdem werden die Daten mit sozio-demografischen Merkmalen angereichert“,erklärte Norbert Weber, Senior Manager bei der Telekom-Tochter Motionlogic GmbH (www.motionlogic.de). Beispiel: Wie viele Passanten sind an einem bestimmten Samstag, zu bestimmten Uhrzeiten, im Vergleich zu früheren Samstagen auf der Düsseldorfer Schadowstraße unterwegs? Wie variieren der Geschlechter-Anteil und das Durchschnittsalter im Tagesverlauf? Aus welchen Postleitzahl-Gebieten kommen sie? Aus solchen Daten lässt sich die betriebsindividuelle Abschöpfungsquote bestimmen, und sie können Streuverluste in der Werbung reduzieren. Zudem können sie in Standortentscheidungen einfließen.
Vor wichtigen Entscheidungen stehen Handelsunternehmen auch bei ihrem Einstieg ins mobile Zeitalter. „Erarbeiten Sie eine individuelle mobile Strategie und befassen Sie Ihre besten Leute damit“, empfahl Mark Pralle, Geschäftsführer des auf mobile Lösungen spezialisierten Software- und Beratungshauses Fabrik 19 GmbH (www.fabrik19.de). Beispiel Kunden-App: Das Unternehmen hat unter anderem für das Schuhhaus Darré eine Anwendung entwickelt, mit der Kunden per Filter nach gewünschten Schuhen suchen oder ihre Kundenkarte digital hinterlegen können. Sie bietet außerdem firmenneutrale Mehrwerte, etwa aktuelle Hinweise auf die wichtigsten Events in der Region. „95 Prozent aller Apps werden aufgrund hoher Registrierungshürden oder wegen mangelnder Funktionalitäten innerhalb des ersten Monats gelöscht“, so Pralle. Dieses Schicksal sollte man der eigenen App ersparen.
Um das Schicksal kleiner, inhabergeführter Spezialläden mit außergewöhnlichen Sortimenten und emotionaler Ausstrahlung dreht sich die Geschäftsidee von Tim Lagerpusch, CEO der Sugar Trends GmbH (www.sugartrends.com). Die Firma bündelt die Online-Auftritte solcher Läden in einem gemeinsamen Portal, baut ein Informationsnetzwerk auf und stellt den Händlern auch zentrale Dienstleistungen zur Verfügung. Momentan sind bundesweit mehr als 300 Läden angeschlossen, Lagerpusch will das Portal künftig europaweit aufstellen.
Digitalisierung: Nur für gesunde Marken
Noch bis vor wenigen Jahren gehörten emotionale Warenbilder zu den wichtigsten Instrumenten der Verkaufsförderung im stationären Modehandel. Jetzt nimmt die digitale Kommunikation mit den Kunden eine zumindest ebenso bedeutende Rolle ein. Diese These vertrat Kevin Ziegler, verantwortlich für den Vertrieb (Retail, Wholesale, E-Commerce) beim Hemden- und Blusenanbieter Seidensticker, Bielefeld. Weil diese Entwicklung in Teilen des Fashion Business jedoch immer noch verschlafen wird, gelten Investitionen in die Digitalisierung der eigenen Prozesse als Möglichkeit, sich gegenüber dem Wettbewerb zu profilieren.
Digitalisierung funktioniert laut Ziegler jedoch nur bei „gesunden Marken“ mit klarer Positionierung. Unverzichtbares Detail einer solchen Strategie sind Online-Verfügbarkeitsauskünfte in Echtzeit. Kunden müssen in einer Out-of-stock-Situation im Handel mit eigenem mobilem Endgerät ihr Hemd oder ihre Bluse bestellen können, ohne dabei auf einen digitalen Servicepunkt zugreifen zu müssen. Ein Faktor, der in Zeiten ausgedünnter Personaldecken im Handel nicht zu unterschätzen ist.
Digitalisierung habe auch Folgen fürs Marketing. Kampagnen zu entwickeln, sei nicht das Problem. Schwieriger ist die Identifikation der richtigen Kommunikationskanäle. Bei Seidensticker kommt seit Herbst 2016 eine CRM-Software zum Einsatz, die über ein Tool für das Kampagnen-Management verfügt. Dieses garantiert eine besonders fokussierte Kundenselektion sowie eine personalisierte Kommunikation.
Co-Autoren: Klaus Manz, Bruno Reiferscheid
Fotos: EHI/Hauser
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