Seit fast 20 Jahren experimentieren Technologie-Hersteller mit vollautomatischen Checkout-Lösungen. Zuweilen waren Labor-Prototypen auf Fachmessen zu sehen – allerdings unter der Rubrik „ferne Zukunftsvision“. Praxistauglich waren diese sogenannten Tunnelscanner nicht, insbesondere aufgrund inakzeptabel niedriger Erfassungsraten. Darüber hinaus verströmten sie auch rein optisch den Charme eines Computertomographen aus den Krankenhäusern der 1990er-Jahre.
Dabei könnten vollautomatische Scanner die Checkout-Prozesse grundlegend beschleunigen und rationalisieren. „Die Technologie hat hohes Potenzial, allerdings müssen bis zur Marktreife noch viele Details optimiert werden“, urteilt Joachim Pinhammer, Senior Retail Technology Analyst beim weltweit tätigen Marktforschungsunternehmen Planet Retail.
IBM, NCR und Wincor Nixdorf befassten sich als erste Technologieanbieter mit dem Thema. Schon Anfang der 1990er-Jahre baute NCR einen Prototypen und führte erste Laborexperimente durch. Bei diesen wie bei den Versuchen der anderen Anbieter wurden die Barcode-Erfassungsraten sukzessive verbessert, ohne allerdings auch nur in die Nähe der 100 Prozent-Marke zu kommen. Kein Handelsunternehmen weltweit war daher bereit, die Technik anzufassen.
Dies änderte sich erst Anfang 2010, als The Kroger, nach Wal-Mart der größte Lebensmittelhändler in den USA, in seinem Markt in Hebron im Bundesstaat Kentucky den weltweit ersten automatischen Scanner installieren ließ – einen Eigenbau mit Komponenten von IBM und anderen Technologieanbietern. „Wir wollen herausfinden, ob uns diese Technologie beim Checkout-Prozess einige Sekunden einsparen kann“, berichtet Mike Schlotman, Chief Financial Officer bei The Kroger. Beim reinen Scan-Vorgang, so Schlotman, ist dies der Fall, denn er erfordert deutlich weniger Zeit als die manuelle Erfassung. Stark relativiert allerdings wird dieser Zeit-Bonus durch eine Leserate von lediglich rund 90 Prozent. Somit muss die nicht erfasste Ware zunächst identifiziert und dann durch mobile Scanner manuell eingelesen werden. Nach Angaben von Planet Retail hat The Kroger den Markt zwischenzeitlich mit einer optimierten Version ausgestattet und hofft, damit Fortschritte bei der EAN-Erfassungsrate zu erzielen.
Alternative zur Barcode-Erfassung
Denn mit einer Lesegenauigkeit von nahe 100 Prozent steht und fällt die Technik. Die schwedische Firma ITAB will das Problem mit einem anderen technischen Ansatz bewältigen. „Wir versuchen, die Produkte barcodefrei zu identifizieren“, sagt Detlef Rohlender, Geschäftsführer der ITAB Germany GmbH in Köln. Das Unternehmen, europaweit größter Hersteller von Kassentisch-Lösungen, übernahm im Jahr 2008 die niederländische Start up-Company Scangineers, die im Jahr 2005 ihren ersten Tunnelscanner-Prototyp vorstellte. Zunächst versuchte ITAB, die Barcode-Lesetechnik der Scangineer-Lösung zu optimieren, konnte allerdings ebenfalls keine befriedigenden Erfassungsraten erzielen. Seither setzt man auf eine fotooptische Artikelerfassung, kombiniert mit Objektsensoren und mit Gewichterkennung.
Die „Easy Flow“ genannte ITAB-Lösung wurde auf der EuroShop 2011 erstmals vorgestellt. In einem Tunnel von 60 Zentimetern Länge sind insgesamt neun Erkennungseinheiten installiert: sechs Bildprozessoren, eine Waage sowie zwei Objektsensoren, die mit Spektralanalyse die Oberflächenstruktur eines Artikels identifizieren. Das System ist zum Beispiel in der Lage, einen Apfel von einer Apfelsine zu unterscheiden. Alle Erkennungstechnologien werden gleichzeitig aktiviert. Damit, so verspricht Rohlender, kann eine Erfassungsrate von 99 Prozent erreicht werden. Im Praxistest allerdings konnte diese Ansage noch nicht verifiziert werden. Doch geht Rohlender davon aus, „spätestens Anfang 2012 bei einem namhaften schwedischen Handelsunternehmen in die Praxiserprobung einsteigen zu können.“
Feldtest bei der Rewe Group
Belastbare Erkenntnisse gibt es auch im nordrhein-westfälischen Zülpich noch nicht. Dort erprobt die Rewe Group in einem Regie-Markt das ebenfalls Anfang 2011 vorgestellte „360 Grad Scan Portal“, das Wincor Nixdorf zusammen mit Datalogic entwickelt hat. Parallel dazu läuft mit demselben System ein Praxistest beim schwedischen Handelsunternehmen ICA, im Städtchen Botkyrka südlich von Stockholm.
In Zülpich ist der „Automated Scanner“, basierend auf reiner Barcode-Erfassung, seit Ende Mai installiert. Noch läuft die Rewe-definierte Phase eins der Erprobung. Hier geht es vorwiegend darum, die Scan-Rate zu verbessern. „Diese beträgt momentan deutlich über 90 Prozent“, berichtet Claus Deichsel, Bereichsleiter warenwirtschaftliche Prozesse in der Rewe Group (s. Interview).
Auf konkretere Angaben will sich Deichsel nicht festlegen. Allerdings hat sich zum Beispiel schon in der Frühphase herausgestellt, dass der Bottom-Scanner nicht zufriedenstellend funktioniert, also Artikel mit nach unten gerichteten EAN-Codes nicht zuverlässig erfasst. Das Systemteil wird daher in Kürze durch eine optimierte Version ausgetauscht. Die Scan-Anlage bekommt auch Probleme, wenn Einzelflaschen aufs Band gelegt werden müssen, sich beim Transport bewegen und dadurch das Einlesen erschweren. Wie bei der manuellen Erfassung erweisen sich EAN-Codes auf zerknitterten Folienverpackungen als schwer einlesbar. Und auch bei Multipack-Artikeln muss die Kassiererin zuweilen nacharbeiten, denn manchmal werden der Umverpackungs- und der Einzelartikel-Barcode gleichzeitig eingelesen.
Arbeiten an den Prozessen
Zweite zentrale Baustelle sind die Prozesse. In der Anfangsphase wurde der Kunde per Display aufgefordert, seine Waren einzeln aufs Band zu legen. Durch verdeckte Barcodes und aufgrund zu schneller Artikel-Abfolge allerdings konnten dabei, so Deichsel, „nur unbefriedigende Leseraten erzielt werden“. Also musste technisch nachgerüstet werden. Eine inzwischen in den Kassentisch integrierte Ampel zeigt grün, wenn der Kunde den nächsten Einzelartikel aufs Band legen kann. Damit stieg die Erfassungsquote, damit verlangsamt sich aber auch der gesamte Scan-Prozess. Reibungslos dagegen funktioniert die Trennung der Einkaufskörbe.
Wir setzen auf die barcodefreie Artikel-Identifikation.
Detlef RohlenderNachdem der Kunde seinen letzten Artikel auf das Kassenband gelegt hat, wird der Warentrenner aufgelegt. Darauf ist ein EAN 13 gedruckt, der das Vorlaufband sofort stoppt. Über das Nachlaufband wird der Warentrenner bis auf die Höhe der Kassiererin transportiert. Parallel dazu wird dem Kunden auf dem Display der Hinweis angezeigt, dass er zu der Kassiererin vorrücken soll. Bezahlt wird konventionell – der gesamte Prozess bindet momentan zwei Mitarbeiter, neben der Kassiererin auch einen „Scout“, der den Kunden unterstützt.
Fazit: Die Technik hat zwar jede Menge Potenzial, auf dem Weg zur flächendeckenden Praxisreife sind aber noch hohe Hürden zu überwinden. „Lesegeschwindigkeit und -sicherheit sind unabdingbar, außerdem muss eine kundenfreundliche Lösung für das Registrieren sperriger Waren sowie für Gewichtsartikel gefunden werden“, meint Planet Retail-Experte Joachim Pinhammer. Immerhin eine der Baustellen kann aber schon heute geschlossen werden: Im Gegensatz zu den früheren Tunnel-Versionen sieht der Wincor Nixdorf-Checkout mit den aufgesetzten Bügeln leicht, schick und futuristisch aus, weckt also keine unangenehmen Krankenhaus-Assoziationen.
Fotos: Wincor Nixdorf (1), ITAB (1)
„Spannende Technik“
Claus Deichsel, Bereichsleiter warenwirtschaftliche Prozesse in der Rewe Group, über erste Erfahrungen mit dem „Automated Scanner“.
Auf welchen Zeitraum ist das Pilotprojekt angelegt?
Wir arbeiten mit einem absolut innovativen System, es gibt noch keine Erfahrungen. In der ersten Testphase wollen wir zunächst die Erfassungsrate optimieren und die allgemeinen Potenziale der Technik verifizieren. Diese Phase sollte Ende des Jahres abgeschlossen sein.
Wie hoch ist die Erfassungsrate momentan?
Deutlich über 90 Prozent. Wir schauen uns jedes einzelne Erfassungsproblem an und suchen zusammen mit unseren Technologie-Partnern nach Lösungen. Anzustreben ist eine stabile Quote von 99 Prozent, ab dieser Marge lassen sich Rationalisierungsvorteile realisieren.
Was kommt in Phase zwei?
Dann werden wir versuchen, die Geschwindigkeitsvorteile in den Prozess einzubinden, insbesondere aber den gesamten Checkout-Vorgang auf den Kunden auszurichten. Er darf sich durch die Beschleunigung auf keinen Fall unter Druck gesetzt fühlen.
Die Geschwindigkeit ist momentan nicht sehr hoch.
Das System kann im Prinzip 60 Artikel pro Minute erfassen. Das würde ausreichen, aber der Engpass ist die vereinzelte Zuführung der Ware. Eine Ampel, die dem Kunden das Platzieren der Artikel auf dem Band mit 10 bis 15 Zentimeter Abstand vorschreibt, ist keine Dauerlösung. Wir suchen momentan nach technischen Möglichkeiten zur Vereinzelung der Artikel.
Wann ist Phase zwei beendet?
Vor uns liegen noch einige Herausforderungen. Wir hoffen aber, bis Mitte 2012 ein erstes konkretes Fazit ziehen zu können. Ich jedenfalls bin aus heutiger Sicht vom Potenzial dieser spannenden, innovativen Technik überzeugt. Sie kann den Checkout rationalisieren, den Durchsatz erhöhen und die Wartezeiten reduzieren.
Wie reagieren die Mitarbeiter?
Wir gehen absolut offen mit dem Thema um und haben unsere Mitarbeiter in mehreren Meetings ausführlich informiert. Natürlich gibt es Vorbehalte, bis hin zu Arbeitsplatz-Verlustängsten. Unsere Mitarbeiter verstehen aber, dass wir immer neue Chancen und Potenziale suchen müssen. Und sie wissen: Falls die Technik tatsächlich zur Rationalisierung am Checkout beiträgt, werden sie für anderweitige Tätigkeiten, zum Beispiel zur Optimierung der Kundenservices eingesetzt.