„Dies ist ein rabenschwarzer Tag“, hieß es im März 2023 beim Betriebsrat von Deutschlands größter Warenhauskette, als die Schließungspläne auf dem Tisch lagen. 5.000 Jobs, so die Befürchtung, seien in Gefahr. Doch nicht nur die Mitarbeitenden von Galeria Karstadt Kaufhof waren in großer Sorge, nachdem bekannt wurde, dass mehr als 50 Filialen dichtgemacht werden sollen. Auch in den Rathäusern stand die Frage im Raum: „Was soll mit den großen Immobilien in den Innenstädten geschehen, wenn sie nicht mehr als Kaufhäuser genutzt werden?“
Chancen ergreifen
„Abreißen und neu bauen“, lautete häufig die Antwort, besonders wenn es sich bei den Warenhäusern um in die Jahre gekommene, wenig energieeffiziente Gebäude handelte. Doch im Laufe der Zeit kamen immer mehr Ideen auf den Tisch, die gezeigt haben, dass es noch andere Wege gibt, mit den künftigen Leerständen umzugehen. „Fest steht: Die Innenstädte müssen sich neu erfinden, um interessant zu bleiben. Oder um wieder attraktiv zu werden. Die Karstadt-Schließungen sollten daher nicht nur als Belastung angesehen werden, sondern auch als Chance“, sagt Ariane Breuer. Die Immobilienexpertin ist Mitgründerin des Netzwerks „Die Stadtretter“. Der Initiative sind seit dem Start im Coronasommer 2020 bereits rund 1.300 Kommunen und Unterstützende beigetreten. Der zukünftige Umgang mit den bislang von Galeria Karstadt Kaufhof genutzten Flächen spielt im kommunikativen Austausch stets eine große Rolle.
Jeder weiß, dass eine jahrelang leer stehende Immobilie das Bestehen einer gesamten Innenstadt gefährden kann. Daher brauchen wir Lösungen für Zwischennutzungen, müssen Konzepte neu denken, Umnutzungen finden und umsetzen.
Stefan Müller-Schleipen„Uns erreichen fast täglich Anfragen dieser Art“, berichtet Stefan Müller-Schleipen, der ebenfalls zu den „Stadtretter“- Gründern gehört. „Das Thema beschäftigt unsere Mitglieder sehr. Und das aus gutem Grund. Jeder weiß, dass eine jahrelang leer stehende Immobilie dieser Dimension das Bestehen einer gesamten Innenstadt gefährden kann. Daher brauchen wir schnell Lösungen für Zwischennutzungen, müssen Konzepte neu denken, Umnutzungen finden und umsetzen.“
Bildung trifft Handel
Wie solche Lösungen aussehen können, ist bereits zu beobachten. „Außergewöhnlich ist beispielsweise, was gerade in Lübeck passiert“, sagt Ariane Breuer. In der norddeutschen Hansestadt wird eine im Herbst 2020 geschlossene Karstadt-Sport-Filiale mit einem Mixed-Use-Konzept belebt – und dabei in eine Schule verwandelt. Die Stadt hat das Gebäude gekauft, 9.000 qm Fläche sollen aufwendig umgebaut werden: Rolltreppe raus, Fenster rein – und auf dem Dach des Kaufhauses, so der Plan, entsteht der Schulhof. 37 Mio. Euro will die Stadt für das Projekt in die Hand nehmen.
Die Initiative wird aus Mitteln des Bundesprogramms Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) mit rund 5 Mio.Euro gefördert. Darüber hinaus wird die Zwischennutzung des Übergangshauses durch das Förderprogramm der Innenstadtentwicklung und der Stadt- und Ortszentren (Innenstadtprogramm) des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung (MILIG) des Landes Schleswig-Holstein mit 500.000 Euro gefördert. 2028 sollen dann zum ersten Mal Schüler:innen in dem Gebäude unterrichtet werden. Auch Flächen für den Einzelhandel soll es in dem Objekt geben.
„Ich freue mich, dass es gelungen ist, das Gebäude in städtischen Besitz zu übernehmen und so die einmalige Chance realisieren zu können, einen neuen, attraktiven Innenstadt-Magnet zu entwickeln“, sagte Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau, als der Kaufvertrag unterschrieben war. „Das Beispiel Lübeck zeigt, dass Städte nicht dazu gezwungen sind, in der momentanen Situation passiv in der Beobachterrolle zu verharren – vielmehr haben sie es selbst in der Hand, die Weichen für ihre Zukunft zu stellen“, erklärt Ariane Breuer. Stefan Müller-Schleipen verweist auf ein weiteres „Leuchtturmprojekt der Innenstadtentwicklung“ in Solingen, das exemplarisch dafür ist, wie mit Warenhaus-Leerständen umgegangen werden kann.
Bis 2011 gab es in der 160.000-Einwohner:innen-Stadt in Nordrhein-Westfalen eine Niederlassung des Damenmode-Filialisten Appelrath-Cüpper. Das 1.300 qm große Geschäft ist seit Ende 2022 eine „Gläserne Werkstatt“ mit Platz für Pop-up-Stores, ein Café und Kursräume. „Hier ist ein kreativer Treffpunkt im Herzen der Stadt entstanden, der ein Schaufenster für die heimische Wirtschaft ist, für Vereine und Initiativen“, so Stefan Müller-Schleipen. Für Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach ist die „Gläserne Werkstatt“ ein Herzensprojekt. Anlässlich der Eröffnung betonte der SPD-Politiker die Notwendigkeit, mit Blick auf die Innenstädte mehr Optimismus an den Tag zu legen und nicht so viel kaputtzureden: „Mit so einer Haltung gestalten wir gar nichts. Den Kopf in den Sand zu stecken hat noch nie etwas gebracht. Zukunft wird aus Mut gemacht.“
Keine Patentlösungen
Leichter gesagt als getan. Denn nicht nur die bevorstehende Schließung vieler Galeria-Kaufhof-Karstadt-Häuser wird zu sichtbaren Lücken in den City-Lagen führen. Studien zufolge wird die innerstädtische Leerstandsquote dauerhaft auf 14 bis 15 Prozent ansteigen. Die zunehmende Beliebtheit des Onlinehandels, eine der Folgen der Coronapandemie, zeigt Wirkung. Vor Ausbruch der Pandemie lag der Wert noch bei durchschnittlich rund zehn Prozent. Flankiert, so die Befürchtung, wird die zukünftige Entwicklung der City-Lagen demnach von einem weiteren Besucherrückgang.
Etwa ein Zehntel aller Menschen, so die Prognosen, werden den Innenstädten dauerhaft fernbleiben. Das wiederum habe zur Folge, dass die räumliche Ausdehnung der Handelslagen schrumpft und eine Dezentralisierung einsetzt. „Dies ist teilweise bereits zu beobachten“, sagt Breuer. „Ein weiterer Grund, warum Städte jetzt handeln sollten.“ Etwa 60 km von Leverkusen entfernt befindet sich Krefeld: Die 230.000-Einwohner:innen-Stadt hat mit einem drohenden Doppelleerstand in der City zu kämpfen. Zunächst hatte Galeria Karstadt Kaufhof angekündigt, sich Ende Januar 2024 zurückzuziehen, dann folgte der Textil-Discounter Primark und schrieb Ende April in einer Mitteilung an die Beschäftigten, dass „eine Anpassung des Filialportfolios an die veränderten Marktbedingungen notwendig ist“.
Auch der Standort Krefeld sei von der geplanten Neuausrichtung betroffen, erfuhren die Angestellten. Spätestens im Sommer 2024 werde die Filiale geschlossen. Die Stadt reagierte schnell. Unmittelbar nachdem Galeria Karstadt Kaufhof seine Schließungsliste vorgestellt hatte, nahm im Rathaus eine Taskforce die Arbeit auf. Das 17-köpfige Gremium widmete sich der Aufgabe, Nachnutzungskonzepte für das Warenhaus zu erarbeiten. Als dann Primark zum Paukenschlag ausholte, stieg das Arbeitspensum. Die „Taskforce zur Galeria-Kaufhof-Nachnutzung“ benannte sich um in „Taskforce Innenstadt“.
In der Folge seien Best-Practice-Beispiele aus Nordrhein- Westfalen und angrenzenden Bundesländern detailliert unter die Lupe genommen worden, um sich das Spektrum funktionierender Nachnutzungsmöglichkeiten und damit realistischer Transformationsszenarien zu vergegenwärtigen. „Hier gebe es keine Lösung ,von der Stange‘, aber sehr wohl übertragbare Ideenansätze“, heißt es dazu bei der Krefelder Wirtschaftsförderungsgesellschaft WFG. Das passt zum Leitbild der „Stadtretter“: „Um den Wandel der Innenstädte zu meistern, sind Wissensaustausch, Kreativität, Mut und Experimentierfreude gefragt“, sagen Ariane Breuer und Stefan Müller-Schleipen. „Patentlösungen gibt es dabei nicht. Um die Innenstädte zukunftsfest zu machen, braucht jede Stadt ihre eigenen, auf sie zugeschnittenen Lösungen.“
Gemischt genutzt
Seit 2020 laden die „Stadtretter“ immer wieder zu Round-Table-Konferenzen zum Thema Karstadt ein. „Schon damals, als Galeria Karstadt Kaufhof ankündigte, bundesweit jede dritte Filiale aufzugeben, war es uns wichtig, schnell zu handeln und eine Plattform zu schaffen, auf der sich unsere Netzwerkpartner austauschen können“, blickt „Stadtretter“-Mitgründer Boris Hedde zurück. Thematisiert wurde bei den Round-Table-Konferenzen zum Beispiel der Standort Hanau: In der 100.000-Einwohner: innen-Stadt konnte das erfolgreiche Forum Hanau nur entstehen, weil durch den Abriss eines Karstadt-Warenhauses der nötige Platz dafür entstanden war. Das Beispiel aus Hessen sollte den Teilnehmer:innen zeigen, wie Projektentwickler: innen und Stadt gemeinsam ein Konzept zum Umgang mit Leerstand entwickeln können, von dem die gesamte Innenstadt profitiert: „Es ist eine Blaupause, wie mit den Karstadt-Schließungen umgegangen werden kann“, erklärt Müller-Schleipen, „weil dort der Prozess bereits abgeschlossen ist.“
Ein Projekt, auf das die „Stadtretter“ oft verweisen, wenn es um kreative Zwischennutzungskonzepte leer stehender Warenhäuser geht, ist „aufhof“ in Hannover: Nach einem siebenmonatigen Umbau ist seit Anfang Juni der „größte Makerspace des Landes“ für Besucher:innen geöffnet. „Der ,aufhof‘ ist viel mehr als ein Experiment: Aufbruch, die Chance etwas Neues zu wagen und dabei zu helfen, die Innenstadt neu zu beleben“, heißt es dazu bei der Wirtschaftsförderung Hannover. Auf rund 5.000 qm im Erdgeschoss des Hauses wird eine Mischung aus Events, Netzwerk, Stadtentwicklung und Wissenschaft gezeigt. Bis Ende des Jahres soll die kreative Zwischennutzung des altes Kaufhof-Gebäudes andauern.
Hannovers Hochschulen sind mit an Bord, die Stadt stellt den Besucher:innen unter anderem ihre Pläne zur Innenstadtentwicklung vor. Außerdem wurde ein Gaming- und E-Sport-Zentrum eingerichtet, um für junge Menschen anziehend zu wirken. Angedacht sind zudem Veranstaltungen, Vorträge, Diskussionen, Workshops und Seminare. Zu diesem Zweck wurde der „aufhof“ mit einer kleinen Arena ausgestattet, die rund 200 Sitzplätze bietet. Ab 2024 plant die Eigentümerin der Immobilie, die Signa Real Estate, an der Stelle ein gemischt genutztes Gebäude-Ensemble mit Handels-, Wohn- und Arbeitsflächen sowie Hotel und Gastronomie, Künstlerateliers und Ausstellungsräumen zu errichten. „Wenn man sieht, wie viele Ideen landauf, landab für die temporäre oder dauerhafte Nutzung der Warenhaus-Immobilien entwickelt werden, spürt man, welch große Aufbruchsstimmung in den Städten herrscht“, fasst Ariane Breuer zusammen. „Dies ermöglicht uns einen positiven Ausblick auf die Zukunft der Städte“, ergänzt Stefan Müller-Schleipen.