Die Beweggründe, warum sich der Handel mit 24/7-Stores befasst, sind vielfältig. Sie reichen vom Mehrumsatz durch die Unabhängigkeit von Ladenöffnungszeiten über die Optimierung der Nahversorgung in hoch frequentierten Stadtteilen oder in strukturschwachen, ländlichen Regionen bis hin zur Behebung von Personalengpässen.
Gemeinsames Merkmal der pilotierten Läden ist der Convenience-Aspekt, denn das Einkaufsverhalten hat sich im Zuge der soziodemografischen Veränderungen in den vergangenen Jahren dahingehend gewandelt und individualisiert. Der schnelle, spontane Lebensmittelkauf hat in vielen Haushalten die Shoppingtour am Wochenende abgelöst. Kleine Verkaufsflächen, bargeldlose Bezahlverfahren, eine Registrierung vor dem Betreten des Stores per App und die Tatsache, dass die mit Hightech ausgestatteten Geschäfte ohne Personal auskommen, sind weitere Merkmale der 24/7-Konzepte.
Technologiemix
In ihrer fortschrittlichsten Variante mit der sogenannten Grab & Go-Technologie nutzen diese Läden eine Kombination aus KI, Computer Vision sowie Bewegungs- und Gewichtssensoren, die die Kundenbewegungen auf der Fläche registrieren. Die aus dem Regal entnommenen Produkte werden von Deckenkameras über Bilderkennung erfasst. Nach Verlassen des Marktes wird der Einkaufsbetrag ohne Kassenvorgang automatisch über die- selbe Smartphone-App abgerechnet, mit der sich die Konsument:innen am Eingang registriert haben. Die technologisch komplexe Lösung wurde erstmals 2016 im kassenlosen Supermarkt „Amazon Go“ in Seattle/ USA umgesetzt und hat für Aufsehen in der Fachwelt gesorgt.
Um nicht den Anschluss an die neusten Technologieentwicklungen zu verpassen, entwickelten europäische Einzelhändler gemeinsam mit ihren Tech-Partnern eigene Lösungen, die dem Funktionsprinzip von „Amazon Go“ ähneln. Bis auf wenige Ausnahmen befinden sich alle Konzepte heute noch im Testmarktstadium, die meisten davon in England. Tesco zum Beispiel betreibt zwei kassenlose Stores in London. Beide verwenden die Grab & Go-Technologie des Anbieters Trigo, der Markt an der Chiswell Street hat zusätzlich einen Self-Checkout-Bereich. Sainsbury ́s kassenloser Store auf der High Holborn wird wegen seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu einem umfangreicher sortierten Sainsbury‘s Local Supermarkt nur wenig genutzt und ist ebenso ein Einzelstück wie der kassenlose Store von Aldi Süd, der vor gut einem Jahr in Greenwich eröffnete.
Auch der Aldi „Shop & Go“ verwendet Kameras für die Bilderkennung der Artikel, verzichtet aber auf Gewichtssensoren an den Regalen. Amazon hatte im Frühjahr 2021 seinen ersten „Amazon Fresh“-Store in London eröffnet und seitdem in rascher Folge knapp 20 Filialen an den Start gebracht. Die Expansion wurde allerdings gestoppt und es gibt Spekulationen, dass die ersten Läden bald schließen werden.
In Deutschland gibt es nach heutigem Stand fünf solche Konzepte (Rewe „Pick & Go“, Netto MD „Pick & Go“, Hoody, Shopbox und Zappka), von denen nur Rewe „Pick & Go“ mehr als einen Standort vorweisen kann: Der am 12. Dezember 2022 in München eröffnete 300 qm große Markt mit 4.000 Artikeln ist der dritte Standort insgesamt und der erste, der ausschließlich mit Grab & Go-Technologie betrieben wird, während die beiden anderen Rewe „Pick & Go“-Märkte in Berlin und Köln hybride Bezahllösungen mit Self- Checkout und bedienter Kasse anbieten.
Lekkerland, die Convenience-Sparte des Kölner Unternehmens, plant für das zweite Quartal 2023 den Markteinstieg mit der „Smart Box“. Der begehbare, vollautonome Store soll mit Kameratechnologie, aber ohne Gewichtssensoren arbeiten, „weil wir schnell expandieren möchten“, so Lekkerland-Manager Mehmet Tözge.
Projekte im Roll-out
Aus europäischer Sicht gibt es mit Boxy in Frankreich und Zappka in Polen derzeit nur zwei echte Roll-out-Projekte, die mit Grab & Go-Technologie arbeiten. Die Minimärkte unterscheiden sich hinsichtlich Größe und Sortimentsumfang deutlich von den Testfilialen der etablierten Lebensmitteleinzelhändler. Die recycelten Schiffscontainer von Boxy sind nur 15 qm groß und bieten eine Auswahl von rd. 250 Convenience-Produkten an. Man findet sie an Bahnhöfen, Hafenanlagen oder Parkplätzen. Voraussetzung für die Nutzung ist die Smartphone-App des Anbieters. Sie generiert einen QR-Code und der Shop öffnet sich, sobald der Code eingescannt ist.
Im Inneren behalten sechs Kameras die Kundschaft im Blick (max. fünf Personen können sich gleichzeitig im Shop aufhalten), 300 in den Regalen installierte Sensoren registrieren die Warenbewegungen. Die Abbuchung vom Konto erfolgt automatisch nach Verlassen des Stores. Boxy wurde 2018 vom Pariser Start-up Storelift SAS ins Leben gerufen. Nach vier Entwicklungsjahren stehen die Zeichen auf Expansion. Bis Ende 2023 soll die Anzahl der Minimärkte von derzeit rd. 40 auf 180 ausgebaut werden, für 2025 peilt man 1.000 Containershops an.
Der polnische Convenience-Händler Zappka gibt die Zahl seiner 24/7-Stores aktuell mit 50 an. Die Geschäfte befinden sich überwiegend im Indoor-Bereich, wie in Fitness-Studios, Bürogebäuden und bald auch in Krankenhäusern. Eingesetzt wird die Grab & Go-Technologie von Aifi, dessen Lösung auch im Test-Store von Aldi Süd zur Anwendung kommt. Die Abrechnung erfolgt entweder über das in der Zappka-App hinterlegte Zahlungsmittel oder über die beim Check-in erfasste Bankkarte in Verbindung mit der Telefonnummer. In diesem Fall wird die Rechnung per SMS auf das Smartphone geschickt. Der Zappka-Store im Tesla-Werk in Berlin bedeutete im August 2022 den Markteintritt in Deutschland.
Self-Scanning-Konzepte
Von den beschriebenen komplett autonomen Läden unterscheiden sich die Kassenlos-Konzepte, bei denen die Kund:innen die gewählten Artikel entweder mit dem Smartphone oder an einer Self-Checkout-Kasse selbst einscannen. Bekanntestes Beispiel in Deutschland sind die rd. 20 Kleinflächen des Supermarktfilialisten Tegut mit dem Namen „teo“. Das Konzept basiert auf dem Self-Checkout via App oder an einem Terminal, der Zugang ist aber auch über eine Bankkarte möglich
In diesem Jahr sollen 15 bis 20 weitere Standorte eröffnen. Neben „teo“ gibt es noch eine ganz Reihe weiterer Self-Scanning-Konzepte, u.a. von Tante Enso (16), Emmas Tag-und-Nacht-Markt (7), Tante M (34). Teilweise sind diese Verkaufsstellen, die vor allem Versorgungslücken in ländlichen Regionen füllen sollen, als hybride Lösungen eingerichtet. Zu bestimmten Zeiten ist Personal im Laden und es kann wie bei Tante Enso auch an normal bedienten Kassen bezahlt werden.
Außerhalb der Hochfrequenzzeiten kommen ausschließlich Self-Checkouts zum Einsatz. 24/7-Stores, die nach dem Prinzip „Reingehen – Einkaufen – Rausgehen“ funktionieren, haben eine Schwach- stelle: die Gefahr des Ladendiebstahls. Tegut-Geschäftsführer Thomas Gutberlet räumte kürzlich in einem Interview mit der „Lebensmittelzeitung“ ein, dass die Inventurdifferenzen in den „teo“ Läden höher liegen als in den herkömmlichen Filialen. Dieser Nachteil lässt sich weitgehend ausschalten, wenn die Stores nicht begehbar sind und Kund:innen keinen unmittelbaren Zugriff auf die Produkte ermöglichen.
Zu den „automatisierten Boxen“ gehören nach der Definition von Stephan Rüschen, Professor für Lebensmittelhandel an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Heilbronn, sowohl die Container mit automatischer Kommissionierung als auch die traditionellen Verkaufsautomaten. Erstere ist die technologisch fortschrittlichste Variante. Logistikroboter in einem angeschlossenen Warenlager befördern die per Smartphone-App oder Touchscreen-Terminal georderten Artikel aus einem angeschlossenen Warenlager zu einem Ausgabefach.
Zurzeit laufen verschiedene Pilottests wie u. a. der „E 24/7“ der Edeka Südwest in Kooperation mit der Deutschen Bahn, „Combi 24/7“ von Bünting, „Pickme 24/7“ von Migros und Latebird als Technologiepartner von Lekkerland. Trotz der Vielzahl an Projekten ist noch kein Rollout in Sicht. Vieles spricht dafür, dass 24/7-Stores ihren festen Platz in den Vertriebskanälen des Lebensmittelhandels finden werden. Weniger als substitutives Format, sondern als Nischenkonzept mit Schwerpunkt auf Convenience-Artikeln. Es kommt darauf an, ob autonome Stores wirtschaftlich betrieben werden können. Dies ist erst dann der Fall, wenn die Konzepte in Serie gehen und sich die relativ hohen Entwicklungskosten amortisieren.
„Auf kleiner Fläche skalierbar“
Stephan Rüschen, Professor für Lebensmittelhandel an der DHBW in Heilbronn, sieht den Durchbruch der Grab & Go-Technologie nur als eine Frage der Zeit.
Smart Stores 24/7 sind in Deutschland zu einer boomenden Nische geworden. Wo stehen wir aktuell im europäischen Vergleich?
In Deutschland haben wir circa 60 unterschiedliche Konzepte erfasst, die wir zu den Smart Stores 24/7 rechnen. Die Vielfalt ist damit deutlich höher als in anderen europäischen Ländern. Jedoch liegt der Fokus in Deutschland auf Self-Scanning und auf Ausgabeautomaten mit einer robotikähnlichen Technologie.
Smart Stores für ländliche Regionen oder Hochfrequenzlagen: Für welche Formate sehen Sie die größten Entwicklungspotenziale?
Wir sehen sehr eindeutig, dass im ländlichen Raum die Konzepte deutlich schneller expandieren als in Hochfrequenzlagen. Dies liegt vor allem daran, dass im ländlichen Raum Versorgungslücken mit Smart Stores 24/7 geschlossen werden können und diese Stores dort mit deutlich weniger herkömmlichen Konzepten konkurrieren. Zudem gibt es faktisch keine E-Food-Angebote auf dem Land. Der Sonntag als Verkaufstag ist allerdings ein Muss, um diese Konzepte wirtschaftlich betreiben zu können. Grab & Go Stores gelten als fortschrittlichste Variante der 24/7Stores.
Welche Voraussetzungen und Perspektiven sehen Sie für eine Skalierbarkeit dieses Formats?
Für Deutschland sehe ich keinen schnellen Roll-out von Grab & Go-Konzepten, da die Kundschaft in Deutschland deutlich distanzierter auf neue Technologien reagiert. Die Investitions- und Betreibungskosten sind signifikant hoch. Jedoch zeigen Zappka in Polen mit über 50 und Boxy in Frankreich mit über 40 Grab & Go-Stores, dass diese Technologie auf kleinen Flächen um die 50 qm skalierbar ist. Daher ist es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis wir auch in Deutschland einen Grab & Go-Boom erleben werden. Dies wird nach meiner Einschätzung aber noch mehrere Jahre dauern und auch davon ab- hängen, ob es gelingt, diese Technologie auch auf größeren Flächen mit 1.000 bis 3.000 qm einzusetzen.